„Scattered Memories“ von Ultima Vez / Wim Vandekeybus.

„Scattered Memories“ von Ultima Vez / Wim Vandekeybus.

Fliegende Körper

„Scattered Memories“ von Wim Vandekeybus bei ImPulsTanz Wien

Vandekeybus schafft es noch immer, dass dem Publikum kurz der Atem stockt, wenn ein Ziegelstein oder Körper durch die Luft fliegen. Das Ausloten von Gefahr ist auch in „Scattered Memories“ wichtiges Thema.

Wien, 29/07/2022

Wim Vandekeybus erinnert sich: an ein Gastspiel von „Les porteuses de mauvaises nouvelles“ in Helena, Montana, das in einem ehemaligen Gefängnis stattfand. Während er davon erzählt, wird ihm ein Ziegelstein zugeworfen. Es ist zwar der einzige Ziegelstein, der an diesem Abend fliegt, aber nicht die einzige Referenz an sein Debütstück „What the Body Does Not Remember“. Noch immer geht es ihm um das Ausloten von Gefahr. Das merkt man den Abend hindurch immer wieder. Zum Beispiel wenn die Köpfe von drei am Boden liegenden Tänzerinnen mit Erde zugeschüttet werden.

Nach der Erzählung folgt ein eindrucksvoller Bilderreigen mit sehr unterschiedlichen Stimmungen. Man hat das Gefühl, dass die Tänzer*innen zu einer großen Party zusammengekommen sind, wobei diese zwischendurch scheinbar aus dem Ruder läuft. Ob es wirklich Erinnerungen sind oder vielleicht doch neue Szenen aus Erinnerungen entstanden? Man weiß es nicht. Dazu müsste man sich wohl genauer mit Vandekeybus Oeuvre auseinandersetzen. Bei einer längeren Szene hat man das Gefühl, dass man diese aus „What the Body Does Not remember“ kennt. Doch es ist an diesem Abend auch nicht wichtig, ob man etwas zuordnen kann oder nicht…

Vandekeybus hat „Scattered Memories“ anlässlich des 35-jährigen Jubiläums seiner Kompanie Ultima Vez kreiert und nun im Rahmen von ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival zur Uraufführung gebracht. Einen Tag später als geplant, denn die aktuellen Turbulenzen im Flugverkehr hatten auch die Kompanie nicht verschont: Aufgrund von kurzfristigen Flugstornierungen hatte sich die Anreise der Tänzer*innen verschoben.

Noch immer erkennt man, was die einzigartige Qualität von Vandekeybus Stücken ausmacht. Da sind zum einen die hervorragenden Tänzer*innen, die sehr divers sind, aber doch gut zusammenpassen. Zum anderen ist es diese sehr eigene Bewegungsqualität: weiche Körper, die gleichzeitig hart, fast aggressiv wirken. Tänzer*innen, die durch die Luft fliegen und sich gegenseitig regelrecht anspringen, im Vertrauen darauf, dass sie gefangen werden. Und dann ist da natürlich noch Vandekeybus selbst, der es als Choreograf und Regisseur nach wie vor schafft, auch in kurzen Szenen eindrucksvolle Bilder zu kreieren und kurze Geschichten zu erzählen.

Während des Stückes werden als Hintergrund Fotos und Videos projiziert. Hier merkt man, dass sich Vandekeybus ausführlich mit Film und Fotografie beschäftigt hat. Schließlich hat er mittlerweile auch einige Tanzfilme gedreht. Im Kopf bleibt vor allem die Szene, in der ein Kind vor einer Modelllandschaft schläft. Doch die Landschaft ist dem Untergang geweiht: Sie wird überflutet. Es strömt so viel Wasser, dass letztendlich auch das schlafende Kind davon erfasst wird. Es erinnert an einen Weltuntergang. Filmszenen mit Babys erinnern an den von der Wiener FPÖ herbeigeführten „Skandal“, als bei der Schlusszene von „Oedipus / Bet noir“ für eine halbe Minute ein Baby unbetreut auf der Bühne lag.

Zwischen großen Ensembleszenen – 21 Tänzer*innen und Vandekeybus stehen auf der Bühne – finden sich immer wieder ruhige Momente. So zum Beispiel ein Interview, das geführt wird, wobei die Interviewerin sich selber gerne reden hört und eigentlich nur ihre vorgefasste Meinung bestätigt haben möchte. Auch hier weiß man nicht, ob es Vandekeybus sein soll, der interviewt wird und ob er solche Interviews schon erlebt hat. Man kann es sich vorstellen; ebenso, dass die Interviewerin gegen Ende sexuell übergriffig wird. Besonders beeindruckt hat ein Duo, das einerseits sanft und zärtlich wirkt, andererseits aber auch mit Gefahr und gegenseitigem Vertrauen spielt.

Nach eineinhalb Stunden gibt es viel Applaus und Standing Ovations. Man erkennt noch immer, warum Vandekeybus zu einem wichtigen Vertreter der sogenannten Flämischen Welle zählt, die in den 1980ern begonnen hat und bis heute anhält.

 

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