Unterwegs: Realität und Metapher
Helge Letonjas „Nomada“ in Bremen
Von Jan Hendrik Buchholz
In dieser Epoche kommunikativer Kernschmelze bei gleichzeitiger Sprachlosigkeit – kann da das Tanztheater helfen, unsere Stimme(n) wiederzufinden? Helge Letonja und sein Ensemble Of Curious Nature bejahen diese Frage mit ihrer aktuellen Produktion „Momentum Zero“ – in eindrücklichen Bildern.
Bühne, die bewegt, muss Risiken eingehen; Theater, das sich große Fragen stellt, muss sich großen Gefahren stellen; eine Vorstellung, die mit eigentlich Unvorstellbarem verzaubern will, darf zuweilen ihre Tricks verraten. Und darum führt der Premierenabend am Theater Bremen innerhalb von fünf Minuten die gesamte Palette von Limitierungen und Herausforderungen vor Augen, denen die Formation in den nächsten gut achtzig Minuten unterworfen sein wird – und die Tänzerinnen und Tänzer buchstäblich aufs Glatteis. Nun, nicht buchstäblich. Es ist schaumschlagende Seifenlauge. Slippy enough. Dazu kommen ladygaga-eske Plateauschuhe. Masken, die den so wichtigen Sinnen zwischen Stirn und Kinn nur schmale Schlitze zugestehen – und dem Atem entsprechend wenig Raum zur vollen Entfaltung (Kostüme: Csenge Vass). Kein Wunder, wenn hier das Erwachen schier einem Ersticken gleichkommt, wenn die Gestalten erst einmal verzweifelt nach Luft ringen, nachdem Kossi Sebastien Aholou-Wokawui den Streifenvorhang aus PVC wie einen Regen aus Wohlstandsmüll hat niedergehen lassen.
Aber was ist das für ein Setting, das dahinter zum Vorschein kommt, das Rena Donsbach gemeinsam mit Helge Letonja in den Bühnenraum des Kleinen Hauses gebaut hat – und in welchem sich die Akteurinnen und Akteure teilweise vorsichtig tastend, teilweise in einem unbändigen, tapferen Akt der Selbstbehauptung zu treibenden Beats ihren Weg bahnen, ihren Platz suchen? Ist es tatsächlich die Stunde Null der Menschheit, der Menschwerdung? Oder ist es der ganz aktuelle Nullpunkt, in dem wir uns Pandemie-bedingt hierzulande spätestens seit dem ersten Lockdown befinden? Bezüglichkeiten für Beides gibt es genug. Der Mensch, die schaumgeborene Kreatur, ist Mensch, weil er nach Höherem strebt. Und bleibt Mensch, weil er der Natur – seiner wahren? – nicht entrinnen kann. Weil er sich umgehend wieder in den (Messer-)Kampf stürzt. Weil er angesichts seiner Lage dem Verkünder eines zukünftigen Heils nicht trauen mag – und lieber zurück in den Schaum kriecht.
All diese starken Bilder scheinen darauf hinzudeuten, dass der Reset den Umbruch verheißt, indes an der Last der Erinnerung krankt und letztlich den Stillstand bringt – wäre nicht dem stärksten Bild der Schlussakkord vorbehalten: Unserer schweren Bürden beraubt, masken- und stiefellos stehen wir gemeinsam bei Tische, kommen gleichsam herunter vom hohen Ross und treten unverstellt voreinander. Selbst eine anfänglich beängstigende 'Kreatur' findet in unserer Mitte Platz. Manch einer vermisst seine Schuhe, sehnt sich zurück in den Urzustand, wie desolat er auch immer gewesen sein mag. Manch einer bellt laut sein Unverständnis heraus oder seinen (Er-)Klärungsbedarf herbei. Doch Komponist Simon Goff fügt diese Dissonanzen zu einem Choral. Der klingt vielleicht nicht harmonisch – dafür erklingt er geschlossen und kraftvoll. Überhaupt, die Musik: Weite schaffend und zugleich klaustrophob bildet sie das perfekte Pendant zu Letonjas Konzept. Beide hallen nach. Lange, nachdem der frenetische und wohlverdiente Schlussapplaus verklungen ist. Tatsächlich bringt uns „Momentum Zero“ der stimmigen Wieder-Rede ein beträchtliches Stück näher: Weil es noch im Begreifen begriffen ist, statt leichtfertig Lösungen zu präsentieren. Endlich die richtigen Fragen stellen, statt weiter vorschnell falsche Antworten geben – das wäre fürwahr ein Anfang.
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