Probe mit Marcia
Intime Einblicke beim „Training zum Zuschauen“ mit Marcia Haydée beim Staatsballett Berlin
Ein „Onegin“ wäre es gewesen, am besten zum Abschluss einer Saison. Es ist anders gekommen. Das Cranko-Ballett, das ihm schon in seinen Stuttgarter Jahren in Fleisch und Blut übergegangen ist, braucht Raum für Leid und Leidenschaften. Es braucht ein Ensemble, vor dem sie sich abheben können, braucht nicht zuletzt ein Orchester, das ihnen Lebendigkeit gibt. All das ist derzeit undenkbar, und deshalb lässt die Abschiedsvorstellung für Mikhail Kaniskin vor allem Raum für Erinnerungen – ohne dabei mit den Hygienevorschriften in Konflikt zu geraten.
Sinnvoll wäre es gewesen, die Aufführung innerhalb der Serie „From Berlin with Love“ mit einer gefilmten Retrospektive zu eröffnen, wie das seinerzeit bei der Verabschiedung von Michael Banzhaf geschah. Schließlich kann auch Kaniskin eine auffällige Karriere vorweisen. Frühzeitig hat sie ihn an die John-Cranko-Schule gebracht, 1997 direkt ins Stuttgarter Ballett katapultiert. Auch dort war der gebürtige Moskauer nicht mehr zu bremsen: Im „Dornröschen“ von Márcia Haydée arbeitet er sich innerhalb weniger Jahre vom Kavalier bis zum Prinzen Desiré vor. Er verkörpert Crankos „Onegin“, ist der Grieux in Neumeiers „Kameliendame“, tanzt in Stücken von George Balanchine, William Forsythe, Jirí Kylián, Christian Spuck und und und. Es wäre sicher Weiteres dazugekommen, hätte ihn nicht 2007 Vladimir Malakhov ans Staatsballett Berlin verpflichtet.
Wie wichtig ihm die Stuttgarter Zeit gewesen ist, lässt sich an der Gala ablesen. Er selbst präsentiert sich zusammen mit seiner Frau Elisa Carrillo Cabrera zwischendurch mit einem Duo aus „Kazimir’s Colours“ von Mauro Bigonzetti: einer Choreografie, die nicht irgendwelchen Effekten hinterher hechelt, sondern in der Ruhe eine Kraft findet, die Kaniskin, ganz Konzentration und nach wie vor eine imposante Erscheinung, bis zur Neige auskostet.
Eröffnet wird die Abschiedsvorstellung allerdings mit dem berühmten „Pas de quatre“ von Jules Perrot, und so wie „Kazimir’s Colours“ den Konstruktivismus eines Malevich beschwört, lösen sich Iana Salenko, Yolanda Correa, Elisa Carrillo Cabrera und Ksenia Ovsyanick nacheinander aus einer Bild gewordenen Vergangenheit und machen Ballettgeschichte am Ballerinen-Beispiel von Lucile Grahn, Carlotta Grisi, Fanny Cerrito und Marie Taglioni manifest: ein immer wieder reizvolles Unterfangen, vor allem dann, wenn sich Ksenia Ovsyanick als „göttliche“ Taglioni nicht bloß mit der Kopfhaltung in die Ballettromantik einfühlt, sondern ihr auch noch einen ironischen Touch verleiht.
Die historische Ballerinen-Konkurrenz in einem zeitgenössischen Stück wie „LIB“ von Alexander Ekman zu bespiegeln, wäre sicher spannend gewesen. Doch Kaniskin, seit 2017 künstlerischer Leiter der Sir Anton Dolin Foundation, hat anderes vor. Er konterkariert den Feminismus eines „Pas de quatre“ mit Dolins all-men-“Variations for Four“, die allerdings das Publikum dann doch nicht so aufputschen, wiewohl es Daniil Simkin und Dino Tamazlacaru weiß Gott an Virtuosität nicht fehlen lassen.
Mag sein, dass der orchestrale Impulsgeber hier ebenso fehlt wie zuvor bei Crankos „Hommage à Bolschoi“, die den beiden Stuttgarter Gästen Kyo-Jung Kang und Jason Reilly nicht so atemberaubend glückt wie einst dem Traumpaar Haydée/Cragun. Ganz sicher spielt auch die schüttere Publikumskulisse eine nicht unmaßgebliche Rolle. Wenn statt der möglichen 1847 Plätze in der Deutschen Oper nur maximal 455 besetzt werden dürfen, kann kein Energiefluss entstehen, der das Bühnengeschehen spürbar mitteilt. Vielleicht gilt ja Einsteins Energieformel auch fürs Theater. Egal, ob es sich um „Paganini“ von und mit Marcelo Gomes (Dresden) handelt, um „Excelsior“ mit zwei Youngster der Mailänder Scala oder um „Look Out from the Silence“ von und mit Alexander Abdukarimov (Berlin): fast alle Aufführungen bleiben einen Schritt weit hinter ihren Erwartungen zurück. Nur Polina Semionova ist Profi genug, den „Sterbenden Schwan“ dennoch zum Ereignis zu machen. Ebenso Lucia Lacarra und Matthew Golding, die als Sendboten des Dortmunder Ballett in „Finding Light“ von Edwaard Liang auf gewohnte Weise ihr Licht leuchten lassen.
Ganz ohne Crankos „Onegin“ endet die Gala übrigens dann doch nicht. Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera tanzen ein letztes Mal den Pas de deux aus dem dritten Akt, und beide stürzen sich ebenso vehement wie virtuos in ihre Verzweiflung, als wollten sie über den Abschied hinaus unbedingt einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das gemeinsame Töchterchen hat zwar den Auftritt verschlafen; kein Wunder, es ist erst vier. Aber alle anderen im Saal sind abends hellwach und feiern die beiden, wie’s ihnen gebührt.
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