Abschied mit Sehnsucht
Dirk Neumann hört als Ballettdirektor am Staatstheater Cottbus auf.
In Cottbus lotet Oliver Preiß die Untiefen unserer Gefühle aus
Es ist die Liebe, die unser Leben koloriert, konturiert und kulminieren lässt - auch wenn sie oft nur einen Wimpernschlag über währt. Der jedoch wirkt bisweilen über die Zeit hinaus. Beidem, dem Wimpernschlag und der Zeit, forscht Oliver Preiß in einer Uraufführung am Staatstheater Cottbus nach und setzt der Liebe tänzerisch ein Denkmal. „Nur ein Wimpernschlag...“ nennt er beziehungsreich den fast 100 pausenfreie Minuten laufenden Parcours der Gefühle und versteckt im Titel gleichsam seinen dramaturgischen Kunstkniff: Einer Reisenden auf ihrem Weg wohin immer begegnen verschiedenste Spielarten jenes Phänomens, die sie stets nur kurz, ein symbolisches Blinken des Augenlids eben, beobachten kann. Zusammengenommen fächern sie dennoch ein ganzes Kaleidoskop von Herzweh, Wehmut und Erwartung auf. Und weil es sich bei nahezu allen der elf Episoden um Soli handelt, ist Oliver Preiß zudem ein coronatauglicher Wurf für die Kammerbühne gelungen. Nur gut 30 Zuschauer*innen dürfen ihn stets erleben, die aber reagierten bei der Premiere begeistert.
Auf Hans-Holger Schmidts Szene türmen sich helle Kisten, die nach dem Baukastenprinzip umgeschichtet werden können, der Spielfläche Tiefe geben und dem Tanz freien Raum bieten. Andrea Masotti ist die Reisende im karierten Rock, die hinter einer Mauer auftaucht, bald den Mantel ablegt, die Kästen umsortiert und mit Topfblumen aus dem Koffer wohnlich schmückt. Ein Fotoalbum hinterlässt sie in der Mitte. Bei Simone Zannini ruft es Erinnerungen wach, die sich in einem akrobatischen Ausbruch mit Bodenberührung und Kistenkontakt entladen. Nach Ólafur Arnalds und Ryuichi Sakamoto als musikalischen Begleitern kommt nun der Mittelsatz aus Henryk Góreckis „Sinfonie der Klagelieder“ zum Einsatz: Es ist Alyosa Forlinis „Gepeinigtes Herz“, dem wie einem Untoten in fahlem Licht ein rotes Band aus dem Oberkörper quillt. Als Labyrinth, in dem er sich vorübergehend verfängt, spannt es die Bühne aus, ein metaphorisches, durchaus melodramatisches, tänzerisch eindringliches Bild.
Verwirrung bei den Vorübereilenden stiftet eine schwarze Puppe, die schattengleich auf einer Bank sitzt. Für Denise Ruddock aber ist sie in einem atemlos liebesbedürftigen, sogar witzigen Zweitanz Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Zuneigung. Die Reisende stopft das leblose Wesen schließlich in eine Kiste und beklagt in einem Gedicht den rasenden Schmerz, wenn man zu bedingungslos geliebt hat. Annalisa Piccolo gibt dem Alleinsein bestechend körperliche Gestalt, zieht sich in eine Höhle aus Kisten zurück und lauscht versonnen einem gehauchten Song von Damien Rice. Ist Oliver Preiß und seiner Interpretin damit eine ungemein emotionale Miniatur gelungen, so wandelt Stefan Kulhawec als „Janus“ alle Trauer in blanke Empörung um. Die Höhle dient ihm als Dusche, unter der er die Rückansicht seines Edelkörpers präsentieren kann, bevor er sich in einem artistisch gespickten Exzess gegen diese Welt aufbäumt, sie im Fortstoßen der Kästen demoliert, neu türmt und verzweifelt abstürzt. Seine Wut aber hallt noch nach. Stefan Kulhawec, präzis bis in seine komplizierten Sprung- und Sturzkaskaden, erweist sich in diesem fulminant erfundenen Gefühlsaufruhr als stärkste Persönlichkeit des Cottbuser Ensembles.
Ein Tango von Astor Piazzolla wird für Alessandra Armorino zum peinigenden Klang, der sie erschrocken durch einen klinisch weißen Raum hetzt. Andere Probleme haben indessen Lolita Valau und Mario Barcenilla Rubio. Ein Stück Wand trennt sie, obwohl ihre Körper so sehr nacheinander streben. Anscheinend weiß das keiner vom anderen, und so sind zwei parallele, geschmeidig angelegte, mitunter synchron ablaufende Soli eine einzige verpasste Chance auf ein Treffen. Großartig hat Preiß das zum 2. Satz aus dem 1. Violinkonzert von Philip Glass komponiert und dem Abend damit einen seiner Höhepunkte beschert. Wieviel Theaterinstinkt er besitzt, zeigt auch der nächste Beitrag. Nach all der Dramatik lässt er Venira Weilijan einen Ruhepunkt setzen, in dem sie dem Verrinnen der Zeit nachfahndet, wie ein rieselnder Strahl sie sichtbar macht.
Nochmals bricht ein intensiver Tanztaumel aus, in den Emily Downs zu Patti Smiths Nirvana-Cover „Smells like teen spirit“ fällt, ehe ein Schuss das Licht und wohl auch ihr Leben auslöscht. Es folgt das Finale: In einer nun übersichtlich arrangierten Kistenwelt lagern die zehn Figuren, derweil die Reisende ihre Pflanzen einsammelt und zurückblickend den Ort verlässt. Gegen das Fallen könne man nichts tun, solle dabei aber auf den Füßen landen, mahnt als Zitat des Gedichts eine Projektion über den Köpfen.
Solcherart optimistisch weist Oliver Preiß einen Ausgang aus einer choreografisch dicht gefügten, emotional vielschichtigen Gefühlslandschaft, in der sich die Tänzerdarsteller*innen neugierig und enthusiastisch angesiedelt haben, gewandet in Adriana Mortellitis geschmackvoll dezente Kostümentwürfe. Ballettchef Dirk Neumann hat mit dieser Produktion wiederum einen Glücksgriff für sein Ensemble getan. Preiß, gebürtig aus dem Erzgebirge, nach seiner Ausbildung an der Palucca-Schule Dresden und in Wien Tänzer in Plauen, Würzburg, Kiel und ein Jahrzehnt bei Mario Schröder in Leipzig, empfiehlt sich mit „Nur ein Wimpernschlag...“ als talentvoller Nachwuchs-Fabulierer mit Tanz, und das gleich in der Königsdisziplin: einem Abend aus inhaltlich lose verknüpften Solos. Seine klassisch grundierte Bewegungssprache reichert er mit einem gerüttelt Maß an ungebundener zeitgenössischer Eingebung an, weiß vielerlei Akzente zu setzen und verliert nirgends den Blick auf sein erzählerisches Anliegen. Wirken in manchen der Soli die Folgen noch gereiht, choreografiert er sich im Lauf des Abends zunehmend frei, hin zu organisch stringenten Abläufen. Das durch drei Eleven*innen erweiterte Cottbuser Ballett meistert die Wirrnisse der Liebe souverän - mehr als einen Wimpernschlag lang.
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