Altmeisterliches
Tanz im August: Neues von Jérôme Bel und Estelle Zhong Mengual sowie Meg Stuart und Francisco Camacho
Nichts bestimmt unser Leben, unser Erleben und unseren Alltag so sehr wie Rhythmus. Vom Herzschlag von Kind und Mutter während der Schwangerschaft, über die treibenden Beats in einem Club bis hin zum Fluss der Passanten in unterschiedlichen Städten auf unterschiedlichen Kontinenten. Rhythmen bestimmen, wie wir Orte wahrnehmen, unseren Platz darin finden und miteinander in Beziehung treten. Rhythmen können Gemeinschaften erzeugen, dort Gemeinsamkeiten zutage fördern, wo man sie eigentlich nicht vermutet – und gleichzeitig auch bedrohlich und manipulativ wirken.
Das Bilden und Zerfallen von Strukturen ist ein Leitmotiv im Werk der in Berlin lebenden, israelischen Choreografin Lee Méir. Nachdem sie in ihrer frühen Arbeit „Translation included“ einen schrägen Wettstreit zwischen Sprache und Bewegungsmaterial inszenierte und in ihrem Solo „Line Up“ in einen Dialog mit schwingenden Metallröhren trat, hat sie für ihr neuestes Werk die nur scheinbar konventionellere Form einer Gruppenchoreografie gewählt.
Sechs Tänzer*innen mit unterschiedlichen Körpern, Hautfarben und Backgrounds – von der Spoken-Word-Performerin über die Urban-Dancerin bis zur Folkwang-Absolventin, handeln in einem 90 Minuten lang nicht abreißenden Flow Gemeinschaft aus.
Zunächst beginnt alles scheinbar ziellos und verhalten. Dessa Ganda, Eli Cohen, Cajsa Godee, Emeka Ene, Willie Stark und Marie-Lena Kaiser schweifen vereinzelt durch den Bühnenraum, streifen hier ein Kostüm über, probieren dort eine Geste oder einen gutturalen Laut aus. Es ist ein langsames Tasten, aus dem sich nach und nach einzelne Rhythmen herausschälen. Das Stampfen eines Fußes, eine synchrone Drehung mit der Hüfte, ein Rascheln mit einem Stück Stoff – derart banal sind die Impulse, die schließlich nach und nach die Interpreten kontaminieren und in Dialog bringen. Immer wieder verdichten sich Sequenzen, steigern sich, schwellen zu Chorgesängen oder archaisch anmutenden Ritualen an. Gleichzeitig bleiben die Beteiligten vollkommen bei sich selbst, verlieren sich nicht vollständig in dem rhythmischen Magma.
„safe&sound“ ist eine Studie über Aufmerksamkeit, über Respekt im wahrsten Sinne des Wortes. Durch die extreme Offenheit, mit der die Tänzer*innen agieren, entstehen Bilder und Situationen, die sich teils aus dem Zusammentreffen, teils aus individuellen Fantasien und Erinnerungen zu speisen scheinen. Doch wird hier nichts festgehalten, nichts behauptet.
Kaum kristallisieren sich Bewegungsmuster heraus, die nacheinander von allen übernommen werden, schert schon wieder eine*r aus, um perkussiv, stimmlich oder durch den spielerischen Umgang mit den auf der Bühne verstreuten Kostümen ein neues Universum aufzumachen.
„safe&sound“ ist im wahrsten Sinne des Wortes ein „safe space“, in dem sich über die Dauer der Aufführung hinweg Begegnungen, Klänge und Individuen entfalten – ohne dass dabei mühevoll etwas behauptet würde. Gleichzeitig besticht die Arbeit durch eine seltsame Strenge und Konzentration. Im Gegensatz zu manchem auf somatischen Praxen basierenden Kollektivstück sehen wir hier nicht selbstvergessen wabernden Amöben bei der Fusion zu. So wach und präzise ist das Geschehen, dass es Spaß macht, in den rätselhaften Aktionen nach Cues und Partituren zu suchen.
Auch wenn Lee Meir in der Performance nicht als Interpretin auftritt (eine Premiere für sie), ist ihr das Kunststück gelungen, gerade durch ihre Rolle als Choreografin noch präsenter zu sein als je zuvor. „safe&sound“ ist ein wahres Ensemblestück, dem man die flachen Hierarchien ansieht, die zu seiner Entstehung geführt haben – und gleichzeitig ein meisterhaft gebauter Raum der Möglichkeiten, in dem eine Gruppe entstehen kann, ohne dass sich dadurch Individualitäten auflösen. In dieser Zeit der Vereinzelung und erbitterten Diskussionen über Identität und Machtstrukturen ist das ein philosophisches und auch ethisches Statement.
Der vorliegende Text entstand nach dem Besuch einer der pandemiebedingt ohne Publikum stattfindenden Aufführungen von „safe&sound“ im Berliner HAU3 im Mai 2021. Anschließend hat Lee Méir mit zwei Filmemacher*innen zusammengearbeitet: Noam Gorbat, der das Bühnenstück dokumentierte, und Dalia Castel, die mit „working on ‘safe&sound’“ einen Film über die Arbeit am Bühnenstück gedreht hat. Beide sind vom 29.6. bis zum 5.7. auf HAU4, der Webplattform des Hebbel am Ufer, verfügbar.
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