„Tumulus“ von Francois Chaignaud

„Tumulus“ von Francois Chaignaud

Anhaltend prozesshaft

„Wir sind nicht mehr, wo wir waren.“

Tänzerisches zieht sich durch die laufenden „Wiener Festwochen“. Die heute noch radikale Komposition „Kraanerg“ von Iannis Xenakis (1968/69), ursprünglich von Roland Petit, wird hier neu von Emmanuelle Huynh choreografiert.

Wien , 10/06/2022

Es ist die dritte Festival-Ausgabe der Wiener Festwochen, die der 1967 geborene, davor mit der Leitung des belgischen KunstenFESTIVALdesArts betraute Christophe Slagmuylder gestaltet und die erste, die ohne besondere Corona-Regeln scheinbar ungestört ablaufen kann. Gleichwohl verfolgt der Belgier eine Auffassung, die man mit ihm teilt: „Wir sind nicht mehr wo wir waren, aber auch noch nicht an einem neuen Ort.“ Altbekannte Muster müssten verlassen und neue erfunden werden. Insofern bildet die sämtliche Kunst- „Sparten“ verflechtende, auch prozesshaft und auf Partizipation ausgerichtete Programmierung samt Laboren eine sehr breite, „flächige“ Anschauung von zeitgenössischem Kunstgeschehen ab. Heraus geragt hat daraus zum Beispiel Romeo Castelluccis (mit Evelin Facchinis Choreografie) berührende und bewegte Inszenierung des „Requiems“ von Mozart.

Tänzerisches, Performatives zieht sich also durch die Programmierung. Man trifft immer wieder auf Namen, die auch die Programme Wiener Tanzveranstalter bestücken, etwa die marokkanische Choreografin Bouchra Ouizguen. Wiederholt zu sehen sind dieses Mal auch die brasilianischen, mit ihren Produktionen gesellschaftspolitisch aktiven Künstler*innen Bruno Beltrao mit seiner staccatoartigen Dekonstruktion von Street Dance-Formen in seiner „New Creation“ und Lia Rodrigues‘ inklusiver, auf Gesängen der indigenen Guarani beruhenden Produktion „Encantado“.

Gesungen wurde auch in der Eröffnungsinszenierung „Tumulus“ des Choreografen Francois Chaignaud in Kooperation mit dem Musiker Geoffroy Jourdain. Auch diese Produktion ist eine von zahlreichen internationalen Veranstaltern mitgetragene szenische Form, die auf Tournee geht. Das Gestalter-Duo lässt um und auf einem riesigen Grabhügel 13 singende Tänzer*innen bzw. tanzende Sänger*innen mit polyphonen Werken aus dem 16. Jahrhundert bis Claude Viviers „Musik für das Ende“ (1971) schreitend, hüpfend, stolpernd, stockend auftreten. Das Ohr erreicht ein „Wohlgesang“, das Auge ein vermutlich absichtsvoll redundant inszenierter „Dilettantismus“. Im Programmtext wird vom Traum einer Künstler*innen-Gesellschaft geschrieben, die den Körper mit seinen (Un)-Fähigkeiten zelebriert.

Von einem tänzerischen Gestus gespeist erwies sich weiter „infini 1-18“ des belgischen Szenografen Jozef Wouters, der im Volkstheater mehrere Stunden lang zum Thema Bühnenbild pur, ohne szenische Aktion, wechselnde optische und auditive Beiträge von unterschiedlichen Künstler*innen, darunter die Choreograf*innen Arkadi Zaides, Amanda Pina, Begüm Erciyas, Michiel Vandevelde und Rodrigo Sobarzo, vorführte: Eine Art niederschwellig aufbereitete Sammlungspräsentation mit Erläuterung. Wouters animierte die Zuschauenden außerdem, je nach Lust und Laune Plätze zu wechseln, den Saal zu verlassen, in der Bar oder anders wo abzuhängen, nach Gutdünken wieder zu kehren. Diesem Akt der Dekonstruktion von Theater folgten doch Etliche.

Neugierig machte indessen die inszenierte Wiederaufführung der komplexen Ballett-Komposition „Kraanerg“ des griechisch-stämmigen, im französischen Exil tätig gewesenen, innovativen Musikers Iannis Xenakis (1922 – 2001), dessen 100. Geburtstag derzeit gefeiert wird. Die rund 75-minütige Komposition für 23 Instrumente, räumlich auf je einen Block mit Streichern und einen mit Bläsern aufgeteilt, erhält durch ein zugespieltes Band eine zweite Ebene. Es sind ausschließlich diese präparierten, scheinbar ruhiger fließenden, im Verlauf des Abends immer länger werdenden Abschnitte, die Choreografin Emmanuelle Huynh (mit Licht von Caty Olive) nutzt. Sie durchsetzt damit die intensiv und exzessiv ausgeführten, gestisch angelegten Live-Attacken des herausragenden Klangforum Wien unter Sylvain Cambreling mit punktuell halb abstraktem, halb gestischem Material. Ganz klar wird das nicht.   

Vier Tänzer*innen recken zwischen den Musiker*innen ihre Beine hoch, umkreisen die Instrumentalist*innen, nutzen die bescheidenen Restflächen vor dem Orchester und setzen Akzente mit Stückwerk aus vorhandenem Repertoire von Huynh. Am Ende thront eine der Tänzer*innen auf den anderen und hebt die geballte Faust hoch. Xenakis‘ Komposition soll auch auf die Pariser Studentenbewegung verweisen. Sein Stücktitel wird gerne mit „accomplished action“ übersetzt. Man kann sich der extremen Dichte und Geballtheit der musikalischen Aktion, in die sich Straßenlärm, Aufgeregtheit und Aktionismus hineininterpretieren lassen, schwer entziehen, erfährt aber als Rezipientin sowohl durch das Band als auch durch Stille-Momente einen konstruktiven Aufbau. Wie so oft, wenn Musiker*innen und Tänzer*innen auf einer Ebene agieren, hat es auch dieses Mal (in der Halle G im Museumsquartier) den Anschein, dass außerordentliche Musik von Tanzenden nicht eingeholt werden kann, auch nicht beherrscht. Die Kraft der Musik ist enorm.

Es ist aus heutiger Sicht erstaunlich genug, dass ausgerechnet Roland Petit (nicht Maurice Béjart) im Verbund mit den beiden damals in Frankreich „zugewanderten“ Künstlern Xenakis und Victor Vasarely, der mit seiner Op-Art-Kunst die Ausstattung entwarf, den Auftrag erhielt, 1969 das National Arts Center in Ottawa mit 2300 Plätzen zu eröffnen. Angeblich wurde Petits Leistung mit dem klassisch orientierten National Ballet of Canada geringer als jene seiner Kollegen eingeschätzt. Der Kritiker Pierre W. Desjardins versuchte in der Zeitschrift „Vie des Arts“ die publizierten Reaktionen abzuwägen und unterstreicht vor allem das Hand in Hand gehen der musikalischen, visuellen und choreografischen Bemühungen, die er insgesamt als „zeitgenössischen Klassizismus“ bezeichnet.

Mehr als zwanzig Jahre später, 1988, erreichte Choreograf Graeme Murphy mit seiner Bühnenfassung von „Kraanerg“ für die australische Sydney Dance Company eine beachtliche Aufführungszahl. Nach dem nun erfolgten Neuversuch sollten sich weitere Choreograf*innen Xenakis‘ Herausforderung stellen.

 

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