„Afandor“
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Marcos Morau kreiert für das Ballett Zürich „Nachtträume“ – eine Wucht
Wie wäre es, wenn Zürichs Tonhalle-Orchester einen Abend lang pausenlos Rock und Pop spielen müsste? Sicher sehr anstrengend. Ähnliches hat nun das Ballett Zürich zu leisten. „Nachtträume“ von Marcos Morau ist ein Stück, das weit außerhalb der bisherigen tänzerischen Erfahrungen dieser hoch begabten Truppe liegt. Obwohl sie in allen Facetten zwischen Neoklassik und Zeitgenössischem geschult sind, verlangt es den mitwirkenden Tänzerinnen und Tänzern Bewegungen ab, die sie noch nie ausgeführt haben. Und dabei verlassen sie kaum je die Bühne, 95 Minuten lang.
Das Ballett Zürich darf jedenfalls stolz auf seine Leistung sein. Das Publikum bei der Uraufführung im Zürcher Opernhaus ging ungewohnt weit aus sich heraus: Viele Bravos und ein paar Buhs brandeten am Ende durch den Raum, als wär’s ein Rock-Meeting. Der Jubel führte schließlich zu Standing Ovations.
Der spanische Choreograf Marcos Morau, seit 17 Jahren Chef der experimentellen Tanz- und Künstlergruppe La Veronal in Barcelona, hatte zwei Monate Zeit, um mit dem Ballett Zürich ein Stück zu kreieren. Den Titel setzte er von Anfang an fest: „Nachtträume“. Für den Soundtrack arbeitete Morau mit der jungen Komponistin Clara Aguilar zusammen, ebenfalls aus Barcelona. Entstanden ist eine vorwiegend elektronische, oft sehr heftige Musik mit schweren Bass-Schlägen. Dazwischen erklingen auch klassische Töne, die teils direkt auf der Bühne produziert werden, natürlich nicht ohne Parodie. So spielt Luigi Largo hoch engagiert Rachmaninoff, während sein Flügel kreuz und quer über die Bühne geschoben wird.
Als Inspirationsquelle für seine suggestiv gestalteten „Nachtträume“ – oft sind es Albträume – nennt Morau das Tanzstück „Der grüne Tisch“ von Kurt Jooss (Uraufführung: 1932 in Paris). Dort sitzen Politiker am besagten Tisch, stiften Krieg statt Frieden, schicken Menschen ins Unglück und Soldaten in den Tod. Böser Machtwille, Lügen, Verblendung, Missbrauch von oben nach unten. „Der grüne Tisch“ entstand zwischen den beiden Weltkriegen. Heute denkt man an den Angriff Russlands auf die Ukraine, an Vladimir Putin und vielleicht auch an Donald Trump.
Um Machtspiele der alltäglichen bis brutalen Art geht es auch in „Nachtträume“. Machtspiele in der Liebe, der Gesellschaft, an der Börse, in der Politik. Die mehr als 30 Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich setzen das ins Physische um. Einzeln, dann zunehmend in gleichgeschalteten Gruppen kreieren sie Bewegungen, die an kein noch so ausgefallenes Tanzvokabular erinnern. Einzelne Körperteile scheinen selbständig zu werden, als würden sie an Fäden gezogen. Dann denkt man an Marionetten, oder besser, der heutigen Zeit angepasst, an menschliche Halbautomaten. Es kommt zu Verrenkungen, die an epileptische Anfälle erinnern, aber auch zu Formationen von suggestiver Schönheit.
„Nachtträume“ ist ein Abend in Schwarz-Weiß. Die Bühne bleibt durchgehend im Halbdunkel. Die ausgeklügelten Kostüme (Silvia Delagneau) sind schwarz – Kontrast dazu ein bisschen Weiß, Grau und viel Glitter. Nur selten taucht etwas Rotes auf, ein Rosenstrauß, ein roter Mond, ein bisschen Hoffnung. Der Tisch, bei Jooss rechteckig, ist bei Morau rund und sehr groß. Zwischendurch verschwindet er irgendwohin. Dann dreht sich an seiner Stelle ein Stück Bühnenboden. Eine Szene zeigt, wie sich die Tanzenden mit einem Bein auf festem Grund, mit dem andern auf der Drehbühne bewegen. Ein Hinweis mehr auf die Halbautomaten.
Mit dem sich wandelnden Tisch und einem doppelstöckigen Kronleuchter, an dessen Armen sich weiße Kugeln befinden, hat Max Glaenzel ein sehr eindrückliches mobiles Bühnenbild geschaffen. Die Lichtkugeln können abgenommen, als Bälle verwendet oder auf jene überdimensionierten „Nachtträume“-Wesen gesetzt werden, die ohne Kopf auf die Bühne kommen.
Die Tanzenden treten nicht als Individuen, sondern meist im Kollektiv auf. Auch die Geschlechter sind kaum unterscheidbar. Mit einer großen Ausnahme: Der geniale Bass-Bariton Ruben Drole vom Opernhaus Zürich, legendärer Papageno-Sänger vom Dienst und theatralischer Alleskönner, führt als Spiritus Rector durch das Tanzgeschehen.
Bei einer Matinee vor der Uraufführung erzählte Drole, wie er zu seiner Rolle kam. Der Vielbeschäftige wurde gefragt, ob er bei der Aufführung zwischendurch das Schubertlied „Nacht und Träume“ singen würde. Er sagte zu. Doch dann ging er immer weitere Verpflichtungen ein. Als königliche Frau verkleidet, kommentiert er das Geschehen, zitiert mit wunderbarer Sprechstimme literarische Texte wie Calderón de la Barcas „Das Leben ist Traum“. Am Ende lässt er sich zur Königin ausrufen und von den Untertanen feiern, auf einem Berg von wackeligen Stühlen sitzend.
Das Schubert-Lied singt Ruben Drole dann doch, von Luigi Largo am Klavier begleitet. Aber nicht romantisch, eher wie eine Diseuse oder Kabarettistin. Dann erweitert sich die Szene zu einem heiteren Spektakel, wie sie bei Morau auch stattfinden. Von den Tanzenden getragen, springen wollige weiße Schäfchen auf die Bühne, dreidimensionale Kunststoff-Tiere in Aktion. Falsche Romantik.
„Liebe mich“, befiehlt die Königin am Anfang und Schluss des Stücks. Das gelingt ihr nicht, weder bei den Tänzerinnen und Tänzern noch im Publikum. Aber grenzenlose Bewunderung, das verdient dieses „Nachtträume“-Tanztheater von Marcos Morau schon.
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