Tabula Rasa in Köln
Aus für Richard Siegal und sein Ballett of Difference
Koproduktion „Nachttarif“ zwischen Mira Rosa Plikat & Collaborators und studiobühneköln in der Tanzfaktur Köln
Wartesituation an einer Bushaltestelle: Eine Person sitzt auf den Rücken von zwei knieenden Personen. Die Konstruktion bildet sowohl das Anfangs- als auch das Schlussbild der Choreografie. Die Empfindung von Zeitlichkeit verschwimmt. Hat sich zwischenzeitlich etwas Reales ereignet oder ist alles nur Illusion? Der einst reine, weiße Tanzboden ähnelt mittlerweile einem Schlachtfeld. Im Raum verteilte Kostümteile werden zur Erinnerungsstütze. Das Erlöschen der Neonröhren bringt Licht ins Dunkle. Filmrissartig poppen vereinzelte Momente des Abends auf.
Mit der Teilnahme am Nachwuchsfestival „fünfzehnminuten“ der studiobühne Köln gründete sich die Konstellation aus der Choreografin und Tänzerin Mira Rosa Plikat und den beiden Tänzern Ken Konishi und Kilian Löderbusch. Umgehend folgte die Kooperationsanfrage für die aktuelle Produktion im Auftrag von „westoff 2022 – Theater Netzwerk Rheinland“. Bereits bei ihrem viertelstündigen Tryout lag das Interesse darauf die Nacht als Schwellenzustand zu untersuchen. „Nachttarif“ verwirrt humorvoll die Sinneswahrnehmungen, vermischt spielerisch die Grenzen von Realität und Traum.
Das grelle Neonlicht verzerrt jegliche Konturen. Zunehmend verblassen die Silhouetten der drei Personen und formen sich irgendwo zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft zu einem undurchsichtigen Dreiergespann. Die wandelnde Intensität der Leuchtröhren rückt die Beziehung stetig in ein neues Licht. Starre Körper, deren kleinste Bewegung ein großes Misstrauen bei den jeweils anderen auslöst. Ihre Verbindung wirkt wie Elektroden unter Spannung, welche sich jederzeit – mit ungewissen Konsequenzen – entladen könnten. Stockende Kennenlern-Abfolgen aus Aktion und Reaktion ergießen sich in einer zeitweise gemeinsamen Rhythmik des Vertrauens; die starren Körper werden weich. Aus flüchtigen Begegnungen bilden sich unterschiedliche dynamische Konstellationen, bis zwei Körper in einer innigen Umarmung verschmelzen und die ausgeschlossene Person versucht, in die Symbiose einzutauchen.
Mit der Zeit entgleiten alltägliche Situationen in Absurdität. Konishi und Plikat entledigen sich ihrer Kleidung, wo sich das gleiche Outfit von Löderbusch verbirgt. Ein vermeintlicher Akt der Anpassung behält den Beigeschmack einer übergriffigen Übernahme der Persönlichkeit. Wer ist hier eigentlich wer? Was ist noch wahr? Wie viele Persönlichkeitsschichten verstecken sich in einem menschlichen Körper? Die Identitätskrise wird wie auf einer Party einfach weggetanzt, noch mehr Kleidung fliegt durch die Luft, bis sich die verletzlichste Schicht offenbart. Die nackte Haut als Symbol jugendlichen Leichtsinns. Allerdings umso mehr sich die Musik örtlich entfernt, gerät das sich auf dem Boden windende Fleisch zum bedrohten Material der Nacht. Der Höhepunkt des Surrealen erreicht die Choreografie, als sich die drei Körper zu einer menschlichen Spinne verbinden. Unterstützt jeder Teil des skurrilen Lebewesens zunächst auf höchst komödiantische Weise die gemeinsamen Ziele, entspinnt sich das Geflecht mit akrobatischen Einlagen zu einem missgünstigen Machtkampf. Ist der Raum doch permanent im Wandel begriffen, strahlt die rechteckige Neonlicht-Konstruktion eine Stabilität aus, die als Schutzraum zum gemeinsamen Ausruhen und Reflektieren einlädt.
Die Thematiken in „Nachttarif“ treffen den Nerv der Zeit, denn die Inszenierung schürt zwar die Sehnsucht nach einer ausgelassenen Partynacht mit flüchtigen Bekanntschaften, aber legt ebenso die Gefahren der Nacht offen. Sowohl der frenetische Applaus als auch das Gelächter während der sechzig Minuten bestätigen, dass Köln mit Mira Rosa Plikat, aufgrund ihres Gespürs für Timing, leichtfüßigen Choreografien und vor allem ihrem Sinn für Humor, eine junge Choreografin mit einer großen Zukunft entdeckt hat.
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