Abschied mit Sehnsucht
Dirk Neumann hört als Ballettdirektor am Staatstheater Cottbus auf.
Liebevoll groteske Persiflage
Giorgio Madias „Nussknacker“ entzückt in Cottbus
Von Volkmar Draeger
Schon längst sind die Ballettklassiker nicht mehr allein das Privileg großer Compagnien: Zur Freude einer riesigen Zuschauerschaft haben sie sich auch kleinere Häuser erobert, freilich in einer eigenen, den jeweiligen Möglichkeiten angepassten Lesart. Wie schlüssig das funktionieren kann, beweist das Ballett am Staatstheater Cottbus. Dort hat sich Spartenchef Dirk Neumann für seine „Nussknacker“-Ambition einen mit allen Wassern szenischen Theaters gewaschenen Choreografen geholt und so seinem neunköpfigen Ensemble einen veritablen Publikumsrenner beschert.
Giorgio Madia, durch zwei filigrane Produktionen für die Cottbuser Compagnie bereits in bestem Ruf stehend und auch international ausgesprochen umtriebig, behält in seiner Version des Weihnachtsklassikers die Personnage zwar bei, verstrickt sie jedoch in eine etwas andere Konstellation. Clara ist hier eine Tanzelevin, Drosselmeyer ihr Ballettlehrer. Zur Bescherung an Heiligabend schenkt er Lauselümmel Fritz eine Mäusekönigin und Clara eine Ballerina, doch die Miniaturpuppe des Nussknackers zieht sie magisch an. Des Nachts verlebendigen sich unter Drosselmeyers spinnenfingrigem Dirigat die Puppen – bühnenreal oder nur in Claras Wunschtraum. Da wird die gute Stube der Familie zum Ballettsaal, in dem Clara den tänzerischen Berufsalltag miterlebt: hartes Training, Kostümprobe, Zeitdruck, Zickereien, Verletzung. Am Ende muss sie bei der Aufführung des Balletts einspringen und darf verliebt mit ihrem Nussknacker-Prinzen tanzen. Doch wie schon im originalen Libretto vorgezeichnet, löst sich der Spuk auf: Clara bleibt vorerst nur der Blick durch den Zwischenvorhang hinein in eine Theaterwelt, in die sie, nunmehr ganz sicher, auf jeden Fall eintreten möchte.
Nichts jedoch geschieht in dieser Inszenierung bierernst, hehr oder klassisch. Giorgio Madia fügt das pralle Geschehen mit so leichter Hand, mit so viel Augenzwinkern, reichert es mit derart vielen Gags und alltäglichen Beobachtungen an, dass gerade jungen Zuschauern der Einstieg schmerzfrei gelingen dürfte. Auf die Musik der Ouvertüre deckt man im Haus Stahlbaum geschäftig die Festtafel, lässt die Gläser funkeln, das Tischtuch bauschen, hechtet Fritz akrobatisch über den Tisch. Im Nebel wallt Drosselmeyer zu den Gästen, alle gemeinsam tafeln rhythmisch grotesk zum Nussknacker-Marsch. Nach Verabschiedung der Gäste kuscheln die Stahlbaums kurz, klappst er ihr lüstern auf den Po. Der Kampf zwischen Soldaten und Mäusen wird nicht zum Nahgemetzel, sondern vollzieht sich stilisiert in der Distanz. Und die Schneeflocken, kostümlich nur durch Attribute gekennzeichnet, erinnern Clara an die eben aufgelöste Feiergesellschaft.
Dass der Abend ohne jegliche Leerstelle auskommt, es nirgendwo nur um die Präsentation tanztechnischer Bravour geht, was Kinder eh langweilt, ist einer der Vorzüge von Giorgio Madias so lebendigem Cottbuser „Nussknacker“ für die ganze Familie. Sogar Domenico Franchis Dekoration tanzt mit: Bühnenhohe Säulen mit Zapfenaufsatz sind in der Decke des Stubenhalbrunds fahrbar verankert und können von den Akteuren fortwährend zu neuen Raumeindrücken verschoben werden. Es sind dann auch die Clara bekannten Festteilnehmer, die in die Rolle der im Original ausländischen Hochzeitsgäste schlüpfen – alles natürlich in Giorgio Madias eigener Choreografie. Brillant Stefan Kulhawec im solistisch getanzten Trepak, brillant nach einem respektablen Blumenwalzer Drosselmeyer Alyosa Forlinis fast kontorsionistisch biegsames Bodensolo zur Musik des Orientalischen Tanzes. Wie hier, so hat der Choreograf manche der Partiturnummern seiner Dramaturgie gemäß umgeordnet, ohne dem Gesamtwerk Schaden zuzufügen. Beim Grand pas de deux erspart er dem Paar die Variationen, spickt das Duett indes reichlich mit Schleuderhebungen in verschiedener Körperhöhe oder Nackensitz, fast alles mutig angesprungen von Alessandra Armorina als Clara, ihrer ersten großen Hauptrolle.
Stefan Kulhawec, seit einem Jahrzehnt vom Romeo über Lord Henry in „Dorian Gray“ bis nunmehr zum Prinzen eine der Identifikationsfiguren des Cottbuser Balletts, ist ihr ein zuverlässiger Partner, der kleine Unsicherheiten auszugleichen weiß. Ballettmeister Drosselmeyer ist jedenfalls begeistert von der Vorstellung in der Vorstellung, spendet Applaus, Blumen, Küsschen, ehe der Zauber erlischt. Zuvor zieht Choreograf Giorgio Madia für die Verbeugungen nochmals alle Register: Zur schmissigen Musik der Coda tanzen alle 18 durch Gäste aufgestockten Mitwirkenden in buntem Defilee vorüber, drehen rote Bänder, als sei man kurzzeitig in einen asiatischen Zirkustraum verschlagen. Dass Tschaikowskis Musik vom Band eingespielt wird, mag man bedauern. Mit welchem Spieleifer, welchem physischen Einsatz und wie viel tänzerischem Potenzial die Cottbuser Crew aufwartet, macht ihren „Nussknacker“ zum Festgeschenk auch für Neugierige aus dem nahen Berlin, wo populistische Einschüchterung einen allseits beliebten „Nussknacker“ in die Flucht geschlagen hat.
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