Kontrolliertes Chaos

Neue Publikation „She She Pop - mehr als sieben Schwestern“

Eine Publikation der Kunststiftung lädt ein zu einem Streifzug durch die Karriere eines der wichtigsten Performancekollektive und eröffnet dabei eine anregende Diskussion über die Arbeitsbedingungen von freischaffenden Künstler*innen.

Sie sind nicht aus der Theaterlandschaft des deutschsprachigen Raums wegzudenken. Seit ihrer Gründung vor nun bald drei Jahrzehnten beeinflusst das Performance-Kollektiv She She Pop nicht nur die freien darstellenden Künste, sondern auch öffentlich subventionierte Häuser. Das wie Rimini Protokoll aus der kreativen Schmiede der angewandten Theaterwissenschaft Gießen entstandene feministische Kollektiv kann mittlerweile auf eine Vielzahl künstlerischer Erfolge zurückblicken, darunter zwei Einladungen zum renommierten Berliner Theatertreffen mit ihren Arbeiten „Testament“ (2011) und „Oratorium“ (2019). Aber auch in Bezug auf anti-hierarchische Arbeitsweisen, wichtige theatrale Themen und kulturpolitische Fragestellungen zeichnet sich das siebenköpfige Team mitverantwortlich für den Aufbruch in eine zukunftsgerichtete Theaterlandschaft.

In einer Publikationsreihe errichtet die Kunststiftung NRW derzeit ein Panorama über wichtige Protagonist*innen des sogenannten Postdramatischen Theaters. Der neueste Band „She She Pop - mehr als sieben Schwestern" nähert sich in einem kulturhistorischen Essay, einer Diskussion mit She She Pop und mehreren Gesprächen mit seinen langjährigen Mitarbeiter*innen wichtigen künstlerischen Meilensteinen und der Arbeitsweise des Kollektivs an und skizziert gleichzeitig äußerst einleuchtend deren Bedeutung für die Entwicklung der freien darstellenden Künste in den vergangenen 30 Jahren.

Kapitel 1 beginnt mit einem Streifzug durch die Karriere von She She Pop aus der Sicht der freien Journalistin Annette Gröscher, von der Gründung des Kollektivs 1993 – einem Akt der Notwendigkeit angesichts des dominant männlich aufgestellten Studiengangs in Gießen – bis hin zur heutigen Arbeit, in der She She Pop mittlerweile einen „Kampf“ für eine im Theater verdrängte Gruppe ficht – Frauen über 50. Gröscher bezieht in ihrem Essay äußerst interessante historische, gesellschaftspolitische und theatrale Kontexte mit ein, wodurch eindrucksvoll bis heute erreichte Veränderungen aber auch noch existierende Mängel in den Strukturen des freien künstlerischen Arbeitens aufgezeigt werden. Besonders spannend sind hierbei Zitate von Mitgliedern She She Pops zu ihrem Verständnis der theatralen Figur bzw. von Körper auf der Bühne: „Das autobiografisch inszenierte Selbst ist nicht das Ziel unserer Arbeit, sondern ihre Voraussetzung. Wir gehen nicht auf die Bühne, um ein interessantes, dramatisches oder problematisches Selbst vorzuzeigen. Sondern wir gehen auf die Bühne mit einer Aufgabe, einer offenen Frage, und wir selbst präsentieren uns als beispielhafte Fälle oder Akteur:innen im Angesicht der Aufgabe. Das ist der Unterschied.“ (Sebastian Bark) / „Unsere Kunst besteht darin, eine Frage zu stellen, die man nicht allein beantworten kann. Wir sind uneins und sehen das als Bereicherung.“ (Lisa Lucassen)

Kapitel 2 nimmt den Faden des Streifzugs durch die Karriere She She Pops auf und lässt die Mitglieder des Kollektivs selbst darüber reflektieren. Zunächst fallen dabei zwar einige Doppelungen mit Kapitel 1 auf, später aber verlagert sich das Gespräch zu einer immens wichtigen Diskussion über die unsicheren und finanziell herausfordernden Arbeitsbedingungen in der freien Szene. Die offenen Bekenntnisse des Kollektivs, dass selbst sie als hocherfolgreiche Theatermacher*innen nicht vor der Gefahr der Altersarmut geschützt sind, zeigt auf, dass hier für die Kulturpolitik noch viel Handlungsbedarf besteht.

Die Diskussion über Probleme aber v.a. auch die Vorteile des freien Arbeitens werden weiter diskursiviert in Kapitel 3 in drei Gesprächen mit langjährigen Begleiter*innen des Kollektivs wie dem Videokünstler Benjamin Krieg, der Kostümbildnerin Lea Søvsø oder Menschen, die für She She Pop auf der Bühne standen. Es wird hervorgehoben, wie hier der Arbeitsprozess mit dem Resultat deckungsgleich ist, besonders amüsant ist dabei die Formulierung des „kontrollierten Chaos auf und hinter der Bühne“.

„She She Pop - mehr als sieben Schwestern“ bietet einen sehr kurzweiligen, anregenden Lesestoff, der die Geschichte des Kollektivs, Arbeitsprozesse und starke Haltungen seiner Mitglieder in Bezug auf das Theaterschaffen aus diversen Perspektiven sehr anregend skizziert. Vor allem werden durch die Publikation wichtige Diskussionsräume eröffnet, die es in weiterführender Praxis und Theorie zu füllen gilt. Dabei empfiehlt es sich sicherlich, das Buch nicht einzeln, sondern als Teil der Publikationsreihe im Kontext anderer wichtiger Künstler*innen und Kollektive des Postdramatischen Theaters zu lesen, um einen noch weiteren und diverseren Blick auf diesen Themenbereich zu erhalten.  

 

„She She Pop – mehr als sieben Schwestern“ (hg. von Aenne Anne Quiñones) - eine Publikationsreihe der Kunststiftung NRW im Alexander Verlag Berlin. 168 Seiten, 115 Abb., ISBN 978-3-89581-562-1  12,90€, erhältlich beim Alexander Verlag Berlin
 

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