„Serpentinentänze nach Loïe Fuller“ von und mit: Gunda Gravemann-Kamper

„Serpentinentänze nach Loïe Fuller“ von und mit: Gunda Gravemann-Kamper

Von Anna P. zu Lady G.

Internationales Tanztheater-Wochenende „Tänze der Belle Époche“ im Eutiner Jagdschlösschen

„Anna Pavlova - Ballerina auf Reisen“ von Ildikó Mándy, Loïe Fullers Serpentinentänze von Gunda Gravemann-Kamper und eine dynamische „Carmina Burana“ von Krisztina Horváth: ein vollauf gelungenes Kulturwochenende in einer Gegend, in der sonst nur Urlaub gemacht wird.

Eutin, 29/09/2022

Anna Pavlova, die wohl berühmteste Ballerina aller Zeiten - nach ihr wurde sogar ein Asteroid des mittleren Hauptgürtels (Nr. 3055) benannt - ist Inspiration für den ersten Teil des internationalen Tanztheater Wochenendes „Tänze der Belle Époche“ im Eutiner Jagdschlösschen am Ukleisee. Veranstaltet vom TanzTheaterEutin und auf Einladung von Krisztina Horváth gastiert die Company von Ildikó Mándy aus Budapest.

Es ist weniger die Geschichte der weltberühmten Ballerina, die in dem Tanz-Solo „Anna Pavlova - Ballerina auf Reisen“ präsentiert wird. Vielmehr nimmt der Zuschauer teil an der künstlerischen Entwicklung einer jungen Tänzerin auf dem Weg zu sich selbst. Die ungarische Choreografin Ildikó Mándy inszeniert für die Tänzerin Nikolett Gerlitz eine Art Selbstfindung im Angesicht des großen Idols. Mal spürt sie sich hinein in die Schwanenbewegungen der Pavlova, mal bietet sie ihren filigranen Körper im weißen Ganztrikot als Projektionsfläche für das übergroße Antlitz der russischen Ballerina an. Ausschnitte aus Pavlovas berühmten Solo „Der sterbende Schwan“ - einst von Michel Fokine in St. Petersburg für sie choreografiert - werden nachgetanzt und verschmelzen bisweilen mit dem filmischen Original.

Doch schnell legt Nikolett Gerlitz die Spitzenschuhe ab, tauscht sie mit poppigen Gummi-Boots -die romantische Musik von Camille Saint-Saëns wird von Techno-Beats unterwandert. Die Tänzerin probiert sich an moderneren, rhythmischen Tanzsequenzen aus und spürt Pavlovas Begegnung mit fremden Kulturen nach: vom Tanz mit der Federboa im Revuekostüm über asiatisch Anmutendes mit metalligem Fächer bis hin zu trendigem Urban Dance: Nikolett Gerlitz erweist sich als ungemein vielseitig und sieht dabei der jungen Lady Gaga zum Verwechseln ähnlich: kapriziös und romantisch versunken mit dem Tutu, draufgängerisch und dynamisch mit Turnschuhen und Sweater.

Begleitet wird die Szene durch zum Teil biografisch-informative, meist aber abstrakte Videoprojektionen von Fruszina Spitzer und Dénez Ruzsa, in denen Pavlovas Reisen, Tänze und auch das damalige Zeitcolorit auf das Interessanteste mit den analogen Darstellungen verschmelzen. Nach über 4.000 Auftritten und 300.000 gefahrenen Kilometern erkrankt Anna Pavlova auf einer Reise und stirbt an einer Lungenentzündung während ihrer Abschiedstournee im Jahr 1931.

Am Ende der Tanzvorstellung bleibt von dem Schwanentraum nur noch eine kleine Geste übrig. Überraschend gesellt sich Ildikó Mándy zu der jungen Tänzerin dazu und zusammen absolvieren sie auf Knien einen Tanz der Hände mit wiederkehrendem Schwanenmotiv. Ein sparsames Bild von der Weitergabe der Werte durch die Generationen, das doch berührend im Sinn bleibt. Das Publikum bedankt sich mit wärmstem Applaus.

Der zweite Teil des Abends gehört der modernen Antipodin Loïe Fuller mit ihren ebenfalls berühmt gewordenen Serpentinentänzen. Gunda Gravemann-Kamper widmet diese Hommage - unterstützt von Krisztina Horváth in Musikauswahl, Timing und Kostüm - der amerikanischen Tanzpionierin aus der Zeit der Belle Époche. Sie tanzt in sechs Abschnitten diese durch wirbelnde Stoffbahnen geprägten Tänze zunächst verhalten, dann immer schneller werdend mit dramatisch- ausdrucksvoller Kraft. Man meint diese Tänze zu kennen - meist aus Filmen - und ist beim Zusehen doch überrascht, wie sie die Zuschauer*innen in ihren Bann ziehen können. Gunda Gravemann-Kamper gibt ihnen durch weiche Oberkörperbewegungen Atem und Eleganz, tanzt sich barfuß von Szene zu Szene: mal lyrisch ganz in weiß zu Claude Debussy‘s „Claire du Lune“, dramatisch zum „Valse Triste“ von Jean Sibelius mit schwerem, blauem Stoff und furios in Rot zu Vivaldis Herbst aus den „Vier Jahreszeiten“.

Die Tänze hat sie selbst choreografiert, gecoacht von den wachsamen Augen ihrer Tanztheater-Chefin Krisztina Horváth. In den Pausen zwischen den im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Tänzen liest Ruth Speidel von Voss Texte von und über Loïe Fuller, gibt Einblicke in ihr Leben und in ihre Auffassung vom Tanz: Fuller interessierte sich für die im Jugendstil typischen Übergänge von Formen in Linien, die sich in ihrem Tanz ganz spielerisch ergaben, für eine Art Entmaterialisierung des Körpers mit Hilfe von Stoff. Laut Stephane Mallarmé „gleitet der süße Schwindel auf den Zuschauer über“ und Rodins Sprache versagt: „aber mein Künstlerherz schlägt dankbar für sie“. Solche Aussagen von Zeitzeugen bereichern und verfeinern die Wahrnehmung des Dargebotenen. Das Publikum in Eutin ist in seiner Begeisterung kaum zurückzuhalten und am Ende brandet ein stürmischer Applaus der etwas überraschten Tänzerin entgegen, die sich ihres Erfolges erst einmal bewusst werden muss. So lebendig kann Tanzgeschichte sein, Gratulation!

Am zweiten Abend dann das berühmte Chor- und Orchesterwerk „Carmina Burana“ von Carl Orff: das bekannte Opus mit mittelalterlichen Lied- und Dramentexten, seiner von der Wechselhaftigkeit des Lebens geprägten - und von Göttin Fortuna gesteuerten Thematik der Flüchtigkeit des Glücks - setzt Krisztina Horváth in lyrische Tanzbilder um.

In den bäuerlich anmutenden Szenen liegt der Schwerpunkt auf dem Lauf der Jahreszeiten und der Vergänglichkeit des Lebens. Die Tänzerinnen des TanzTheaterEutin sind ein gut eingespieltes Team. Sie tanzen sehr harmonisch und bisweilen auch an Ausdruckstanz erinnernd: die Angst vor dem Schicksal, dem Unglück, die Hingabe an das Leben und den Jahreslauf mit seinem Auf und Ab zwischen Hitze und Kälte, zwischen Freud und Leid.

Die dem Original zu Grunde liegenden orgiastischen Szenen von Wollust und Völlerei - mit all ihren Folgen für die Menschen - lässt Krisztina Horváth aus. Stattdessen werden Ausschnitte aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ in der Bearbeitung von Max Richter eingeschoben, womit der lyrische Schwerpunkt der Choreografie sich nochmals verstärkt. Die fließenden Bewegungen des Modern Dance wechseln ab mit dynamischen Passagen, in die einige Klassik-Elemente eingebaut sind.

Mild und sehr weich tanzt Adrienn Janzsó, amazonenhaft Rita Brodehl, dynamisch-kämpferisch Sabrina Jürgens und ausdrucksstark Angelika Neumann. Eine schöne, nicht herausfordernde Choreografie, der das Publikum mit Interesse folgt.

Eutin kann sich glücklich schätzen, eine so versierte Künstlerin vor Ort zu haben, die interessante Kulturprojekte einbringt. Krisztina Horváth entwickelt sich neben ihren eigenen Produktionen immer mehr zu einem Coach für die nächste Generation, zu einer Ideengeberin für Tänzer*innen, Schauspieler*innen und Choreograf*innen, die sie mit ihrem enormen Erfahrungsschatz bereichern kann. Ein absolut gelungenes Kulturwochenende in einer Gegend, in der sonst nur Urlaub gemacht wird.
 

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