„Erscheinen“ von Kinsun Chan, Tanz: Steven Forster (vorn), Ensemble

Vor dem Riesensprung nach Dresden

Tanzchef Kinsun Chan verabschiedet sich in der Kathedrale St.Gallen mit dem Stück „Erscheinen“ von der Schweiz

Orgelbrausen verbindet sich mit den Klängen eines zwölfköpfigen Saxophon-Ensembles. Magisch.

St.Gallen, 10/07/2023

Kinsun Chan, Kanadier mit asiatischem Hintergrund, ist in Vancouver aufgewachsen. Der vielseitig begabte junge Mann absolvierte diverse Lehrgänge in bildender Kunst und Grafikdesign, bevor er sich auf eine Ballettausbildung konzentrierte. Heute stattet er seine Choreografien in der Regel selber aus.

Die bisherige Karriere von Kinsun Chan spielte sich hauptsächlich in der Schweiz ab. Er tanzte unter Heinz Spoerli in Zürich, später unter Richard Wherlock in Basel. Hier und in Luzern unter Kathleen McNurney entstanden seine ersten Choreografien, die ihn später auch nach Deutschland, Österreich und in asiatische Länder führten. Seit der Spielzeit 2019/20 leitet Chan die Tanzsparte am Theater St.Gallen – mit lediglich 15 Tänzerinnen und Tänzern. In der Corona-Zeit profilierte er sich zusammen mit dem Choreografen und Artisten Martin Zimmermann in „Wonderful World“, einem ebenso schrägen wie abgründigen Stück.

Doch bald verlässt Kinsun Chan die Schweiz. Er wird Ballettdirektor an der Semperoper Dresden, als Nachfolger von Aaron S. Watkin, der nach 17 Jahren zum English National Ballet wechselt. Ein gewaltiger Sprung für Chan. Vorarbeiten erledigt er in Dresden schon jetzt. Der eigentliche Amtsantritt beginnt zur Spielzeit 2024/25, gleichzeitig mit der neuen Semperoper-Intendantin Nora Schmid, die ihn engagiert hat.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte die Wahl von Kinsun Chan kritisch: Als künftigem Direktor „eines hierarchisch strukturierten Ballettensembles von derzeit 56 Tänzern, drei Ballettmeistern, zwei Gast-Ballettmeistern, drei Pianisten und fünf Gastdirigenten“ – dazu fehle es ihm an Erfahrung. Die Semperoper habe ein „unbeschriebenes Blatt“ zum Ballettdirektor gemacht.

Kinsun Chan dagegen ist voller Zuversicht. „Es fühlt sich an, als hätte ich im Lotto gewonnen“, sagte er in einem Interview mit Bettina Kugler im Juni. Er freue sich allein schon wegen seines künftigen Büros mit Blick auf die Elbe. Dabei schien die Lage vorübergehend kritisch: Sein Vertrag war vom Operndirektor und künftigen Theaterdirektor in St.Gallen, Jan Henric Bogen, nicht verlängert worden. Eine ziemlich verworrene Angelegenheit. Doch Chan erklärt im erwähnten Interview: „Ich bin unendlich dankbar für diese vier Jahre und die Möglichkeit, die ich hier hatte. Es war meine erste Leitungsposition, und ich konnte so viel lernen.“

 

Abschied in der Kathedrale

 

Zuletzt kreierte Kinsun Chan im Rahmen der St.Galler Festspiele eine ganz besondere Produktion. Ort des Geschehens: die hochbarocke Kathedrale, die mit dem gesamten Stiftsbezirk zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. „Erscheinen“ heißt das gut einstündige Stück, das nicht nur das Abschiedsgeschenk von Chan an das St.Galler Publikum ist, sondern auch von Domorganist Willibald Guggenmos und vom Direktor des Theaters St.Gallen, Werner Signer, die beide in Pension gehen.

Je sieben Tänzerinnen und Tänzer in blaugrünen Kostümen und auf flachen Sohlen bewegen sich auf dem Mittelgang oder von den Seitenflügeln her zum Chor, der durch ein kostbares Gitter vom Publikum getrennt ist. Davor wurden links und rechts Stahlgestelle mit quadratischen Feldern aufgestellt, in denen die Tanzenden herumturnen. Manches kann man darin sehen: Eine lustspendende, harmlose bis gefährliche Kletterwand – aber auch eine Himmelsleiter, wobei dem Aufstieg immer auch der Absturz zurück auf die Erde oder gar in die Hölle droht.

Der Tanz beeindruckt weniger durch Virtuosität als durch den Einbezug in die vorhandenen plastischen Baustrukturen. Dazu ein musikalisches Highlight: Zu den üppigen Klängen der Orgel kommt die Musik des eigenwilligen „Zürich Saxophone Colletive“. Unter der Leitung von Lars Mlekusch blasen und bewegen sich zwölf Saxophon-Spielende mit ihren goldglänzenden Instrumenten in verschiedenen Tonlagen durch die Kathedrale, dominierend, aber auch verbunden und verschränkt mit dem Tanzgeschehen. Die Musik reicht von Henry Purcells „Funeral Music for Queen Mary“ über Bach und Ligeti bis zu Steve Reich und Philip Glass.

Zu den 14 Tanzenden kommt eine fünfzehnte Gestalt, die einem schon beim Eintreten in die Kirche begegnet: Eine Tänzerin hoch oben auf einem Podest thronend, gehüllt in eine überlange Schleppe, seidenglänzend und mit Heiligenmotiven aus dem Kloster bedruckt.

Im Ganzen entsteht eine erhabene Atmosphäre, physisch und spirituell. Man hat das Gefühl, einem fremdartigen Ritual beizuwohnen, religiös, aber nicht unbedingt christlich. Weltumspannend. Schön, gefährlich, rätselhaft.

Beim Schlussapplaus nach der ausverkauften letzten Vorstellung von „Erscheinen“ erhob sich das Publikum zu Standing Ovations. Auch ein Stück Abschiedsschmerz klang mit.

 

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