„Wonderful World“ von Kinsun Chan und Martin Zimmermann. Tanz: Ensemble

Trotz allem!

Kinsun Chans Dresdner Version von „Wonderful World“ im Kleinen Haus des Staatsschauspiels

Erst ein irrer Tanz am Rand des Abgrunds. Und dann geht’s genau einen Schritt weiter. Was rettet uns vor der Finsternis? Die Versöhnung mit den Widersprüchen unserer Zeit?

Dresden, 18/10/2024

Wie das eben so ist, mit den Neuen: Das Kleine Haus des Staatsschauspiels Dresden war am Donnerstag zur ersten Premiere des neuen Künstlerischen Direktors des Balletts der Semperoper voll bis unter die Decke. Alle wollten sehen, was Kinsun Chan so macht. Dabei hat er Zeit gespart und noch keine neue Arbeit präsentiert, sondern sein „Wonderful World“, das er gemeinsam mit Martin Zimmermann bereits 2022 für das Theater St. Gallen erarbeitet hatte. Und die Idee, diese Arbeit eben gerade nicht in der Semperoper zu zeigen, ist komplett aufgegangen. Dafür haben die beiden sogar das originale Bühnenbild mitgebracht, eine sich beständig in alle Richtungen neigende Ebene.

Auf der tummelt sich ein deutlich verjüngtes Ensemble. So, wie Chan hier seine Visitenkarte als Choreograf überreicht hat, hat er gleichzeitig sein neues Corps de Ballet vorgestellt; seine Solist*innen hat er allesamt zuhause gelassen. Mit diesen jungen Tänzer*innen hat er Persönlichkeiten mitgebracht, die als solche auch wahrgenommen werden sollen. Die Zeiten, in denen Tänzer*innen das „Material“ eines „Chefs“ waren, sind vorbei. Das zeigt auch das Programmheft des Stücks: Jeder*m ist eine namentliche Rolle zugewiesen.

Entsprechend divers und individuell fallen auch die in Schwarz gehaltenen Kostüme des Ensembles aus. In ihnen stellen sie sich nacheinander am Einlass eines Clubs auf, deren Bouncer eine alte Bucklige ist: Adelheid, die Geile. Wunderbar verschroben gelebt wird die Rolle von Dustin Eliot, der in dieser Rolle permanent durch das Stück geistert und es dramaturgisch zusammenhält.

 

Ahnungslos, was das Morgen bringt

Im Club selbst wird natürlich gefeiert, was das Zeug hält. Dort wird immer mehr deutlich, was schon zuvor am Einlass erkennbar wurde: Alle Charaktere sind völlig überzogen. Da wird permanent für Selfies gepost; da ist die Eine noch neurotischer als der Andere. Alle geben sich wie von der Leine gelassene Irre, die hier den Moment leben, ausgelassen, frei von jeglicher Verantwortung und Ziel. Bisschen Voguing, bisschen Catwalking, ironisch eingestreuter irischer Stepptanz. Selbst vorm abgeschmackten Flossing machen die nicht halt. They all just wanna have fun! Ein popkulturelles Zitat nach dem nächsten wird durchgespielt, bumsfidel und ahnungslos, was das Morgen anbelangt. Die monotonen Beats treiben voran, führen aber nirgendwohin. Come on, Barbie! Let’s go party! Erst in der Rückschau entpuppt sich das als Tanz am Rand des Abgrunds.

Das artet irgendwann aus in eine Art Ekstase, die als Höhepunkt aber verstörend wirkt. Unter Stroboskopgeflacker schlägt eine Gestalt in schwarzem Hoodie mit einem massiven Vorschlaghammer die dünnen Stützwände der Spielfläche weg. Und schlagartig gerät diese in Bewegung, neigt sich in alle möglichen Richtungen. Der Boden unter ihren Füßen, er gerät aus dem Gleichgewicht. Als Wanken oder Schwanken des Bodens kann man das allerdings nicht lesen. Es ist eine Art Eigenleben, als würde der Boden es den darauf Herumwütenden schwer machen wollen. 

Damit geht ein dramaturgischer Bruch einher. Oder, um im Bild des beweglichen Bodens zu bleiben: Alles kippt, geradezu in sein Gegenteil. Alles Individuelle, Glitzernde, Fröhliche verschwindet von der Bühne. Die Party wird abgelöst von einer seelenlosen Meute in einer jetzt düsteren Welt. Bedrohlich, entfremdet, mit verzerrten, verdrehten Körpern. Eine kriegsähnliche Phalanx marschiert über die Bühne; Adelheit, die Geile, trippelt zwischen allen hindurch, in den Händen die Bibel und ein Kreuz. Allerdings entpuppt sich Letzteres als Vaper. Das ist Galgenhumor. Genau so auch ihr schräger Gesang des Klassikers von Louis Armstrong, der dieser Arbeit ihren Titel gegeben hat. Ein Vater Unser, die Bühne voller Leichen und mit ihnen ein danse macabre. Dabei entstehen immer wieder Bilder, die in ihrer Absurdität auch von Samuel Beckett stammen könnten.

 

Eher trotzige Gewissheit als Hoffnungsschimmer

Es dauert eine ganze Weile, bis sich einzelne Tänzer*innen aus ihren Hoodies schälen und damit nicht nur zu ihrer Individualität zurückkehren, sondern auch ihre Menschlichkeit bloßlegen, indem sie mit freiem Oberkörper tanzen. 

Nach diesem Durchmessen eines Spannungsfelds der Extreme bleibt die Versöhnung zum Glück nicht aus: Die Tänzer*innen schlendern langsam auf die Bühne, jetzt in Alltagsklamotten. Ganz leise, noch im Off, stimmt eine Tänzerin noch mal „Wonderful World“ an. Musikalisch wird das entspannt auf der Ukulele begleitet. Die Tänzerin mit dem Instrument trägt ein T-Shirt von Star Wars in der bekannten Schriftart. Allerdings steht auf ihrer Brust „Stop Wars“. Damit ist alles gesagt.

Es ist kaum zu glauben, dass diese dramaturgische Fülle gerade mal etwas mehr als eine Stunde umfasst. Die gemeinsame Erarbeitung der Choreografie von Kinsun Chan und Martin Zimmermann ist dabei nur ein Teil der Zusammenarbeit; die Bühne und das Konzept stammen ebenfalls von Zimmermann, und Chan ist an der Gestaltung der Kostüme beteiligt. Das Ergebnis ist ein emotionaler Parforceritt, der das Publikum spürbar die Luft anhalten lässt. Für diese Arbeit hätte auch kein besserer Raum gewählt werden können. In der samtig-gediegenen Atmosphäre der Semperoper mit ihrer riesigen Bühne wäre das Stück hoffnungslos versunken. So geht die Sache genau auf. Das Ballett der Semperoper kann sich damit sicher sein, ein deutlich jüngeres Publikum anzuziehen. Bleibt zu hoffen, dass Kinsun Chan so weitermacht. 

 

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