Beeindruckend divers
20 Jahre Staatsballett Berlin
Als Christian Spuck (geboren 1969 in Marburg) als Chef zum Ballett Zürich kam, stand noch nicht in den Sternen, welch großen Erfolg er und sein exzellentes Ballettensemble in den folgenden elf Jahre haben würden. Vor und nach Corona waren seine Ballettaufführungen im Opernhaus zu fast 100 Prozent ausverkauft. Ein Zauberkünstler, der neben dem älteren Publikum auch zunehmend jüngere Kreise hinzugewinnen konnte. Umso mehr wird bedauert, dass Spuck ab der Spielzeit 2023/24 als Intendant zum Staatsballett Berlin wechselt.
Dabei hatte es zu Beginn in Zürich nicht so rosig ausgesehen. „Mir wurde damals prophezeit, ich würde das Ballett wohl schon nach einer Spielzeit wieder verlassen müssen“, erzählte Spuck kürzlich bei einem Abschiedsgespräch mit seinem Dramaturgen Michael Küster. Publikum und Presse galten als verwöhnt durch den genialen Choreografen Heinz Spoerli, der in Zürich 16 Jahre lang Ballettdirektor gewesen war. Und große Fußspuren hinterlassen hatte.
Doch es kam anders. Besser. Viel besser. „Christian Spuck und das Ballett Zürich – das ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie sich jedes Opernhaus nur wünschen kann. Sie ist voll von beglückenden Kunsterlebnissen, einer überwältigenden Begeisterung des Publikums, starker internationaler Wahrnehmung, renommierten Auszeichnungen und Gastspieleinladungen.“ Das schreibt Opernhaus-Intendant Andreas Homoki im Vorwort zum neu erschienenen Buch „SPUCK“. Tönt etwas hoch gegriffen, ist aber wahr.
Homoki, 2012 als Nachfolger von Alexander Pereira zum Intendanten des Opernhauses Zürich berufen, galt als nicht besonders ballettkundig. Dass er Christian Spuck engagierte, damals Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett, war eher Zufall. Ein glücklicher Zufall, wie sich zeigte. Bald waren Homoki, der 2025 zurücktritt, und Spuck ein Herz und eine Seele.
Erfolg bereits in der ersten Spielzeit
Erfolg fürs Ballett Zürich brachte schon die erste Spielzeit 2012/13. Christian Spucks Version von „Romeo und Julia“ (Sergej Prokofjew) wird bis heute aufgeführt. „Leonce und Lena“ nach der Komödie von Georg Büchner, noch in Stuttgart entstanden, erheitert und verblüfft das Publikum immer wieder. In beiden Premieren tanzten Katja Wünsche und William Moore die Hauptrollen – Solistin und Solist, die Spuck aus Stuttgart mitgebrachte hatte. Wünsche blieb bis Ende dieser Spielzeit beim Ballett Zürich, Moore zog sich kurz vorher zurück – beide waren Publikumslieblinge, wurden mit Preisen bedacht und hörten jetzt mit Tanzen auf.
„Leonce und Lena“ blieb nicht das einzige Ballett, dem Spuck ein Drama von Georg Büchner zugrunde legte: Es folgte „Woyzeck“ – die Geschichte vom geschundenen Soldaten, der aus Eifersucht seine Geliebte tötet. Weitere von Literatur inspirierte Abendfüller: „Anna Karenina“ nach dem Ehebruch-Roman von Lew Tolstoi, später „Der Sandmann“ nach E.T.A.Hoffmanns gleichnamiger Erzählung. Sozialkritik und schwarze Romantik in Tanz umgesetzt? Spuck und dem Ballett Zürich gelang es, dafür die stimmige Atmosphäre zu schaffen, mit einer Mischung von klassischem und zeitgenössischem Tanz, der oft bei Bildern wie aus frühen Fotografien innehält. Emotion pur, getragen von Musik verschiedenen Genres.
Zu Spucks literarisch inspirierten Handlungsballetten kamen in Zürich bald einmal auch Neufassungen der klassisch-romantischen Ballette des 19. Jahrhunderts zum Zug. Wie überall auf der Welt konnte und wollte man auch hier nicht darauf verzichten. Vor allem nicht auf die Bestseller zur Originalmusik von Piotr I.Tschaikowski. Für „Schwanensee“ wurde Alexei Ratmansky als Choreograf engagiert. Ihm gelang es, die Urfassung von Petipa/Iwanow (1895) weitgehend zu rekonstruieren – eine Quellenarbeit, auf die sich Ratmansky inzwischen spezialisiert hat.
Dann stellte Spuck den Weihnachtsknüller „Nussknacker“ in einen neuen Rahmen: Ging inhaltlich näher ran an die Novelle „Nussknacker und Mäusekönig“ von E.T.A.Hoffmann, stellte die Musik satzweise um, ohne sie zu beschädigen. Schließlich „Dornröschen“ mit der bösen Fee Carabosse: Dieser wird bei Spuck ein liebevoll gehütetes Kinderwagen-Baby vom Königspaar geraubt, was den Ablauf der Handlung tänzerisch durcheinander schüttelt und Carabosse zur tragischen Figur macht.
2016 überraschte Christian Spuck mit einem sehr persönlichen Experiment, das sich bei ihm inzwischen zur festen Form entwickelt hat: dem Musiktheater-Ballett. Es begann mit der „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi. Wellenartig schiebt sich der große Theaterchor durch den Raum, die vier Gesangssolistinnen und -solisten bewegen sich ebenfalls, während das Ballett in wechselnden Gruppierungen tanzt. Inzwischen ist die „Messa da Requiem“ bereits an die Deutsche Oper Berlin übernommen worden, auch hier mit großem Erfolg.
Es folgten ähnliche Arrangements, zuerst „Winterreise“ mit einem Sänger – nein, nicht zur Klaviermusik von Franz Schubert, sondern zur verfremdeten Orchester-Neufassung von Hans Zender. Schließlich choreografierte Spuck „Monteverdi“ zu den herzbezwingenden Madrigalen von Claudio Monteverdi und Fragmenten anderer frühbarocker Komponisten. Der Tanz des Balletts Zürich bleibt in beiden Stücken weitgehend abstrakt, aber voller Emotionen. Die Philharmonia Zürich, das hauseigene Orchester, zeigte sich in der „Winterreise“ einmal mehr als überaus flexibel und einfühlsam. Ebenso die auf ältere Musik spezialisierte Formation La Scintilla bei den „Monteverdi“-Aufführungen.
Wechselseitige Inspiration
Was kennzeichnet Spucks Arbeit? Grundlegende Musik- und Literatur-Kenntnisse, Sinn für Dramaturgie und theatrale Effekte, Ironie und Humor, wenn auch oft mit melancholischem Unterton. Spuck fördert die speziellen Talente seiner Tänzerinnen und Tänzer, lässt sich umgekehrt von ihnen inspirieren. Auch arbeitet er mit optisch anspruchsvollen Bühnenbildnern zusammen – etwa mit Emma Ryott, Jörg Zielinsky und immer wieder Rufus Didwiszus.
Spucks außergewöhnlichste Zürcher Kreation war wohl „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zur hoch experimentellen Musik von Helmut Lachenmann. Weniger einprägsam bleiben die meisten seiner Kurzballette. Auch in punkto Schrittmaterial ist der Choreograf nicht besonders originell, vor allem, was den klassischen Bereich betrifft. Trotzdem war das Zürcher Ensemble – dank hervorragender Ballettmeister – jeder noch so anspruchsvollen Gastchoreografie gewachsen. Die Reihe der illustren Gäste seit 2013 reichte von William Forsythe bis Jiří Kylián, von Marco Goecke bis zu Crystal Pite. Edward Clug („Faust“) und Marcos Morau („Nachtträume“) konnten mit dem Ballett Zürich sogar Uraufführungen kreieren.
Nachfolgerin für Christian Spuck in Zürich wird Cathy Marston, die sich mit dem Tanzstück „The Cellist“ beim Publikum bereits gut eingeführt hat. Doch das Ballettensemble in der bisherigen Zusammensetzung stiebt auseinander. Ein Drittel tanzt in Zürich weiter, darunter die Erste Solistin Giulia Tonelli. Ein weiteres Drittel hat Christian Spuck an die Staatsoper Berlin mitgenommen. So Jan Casier, Michelle Williams, Matthew Knight, Meiri Maeda und Rafaelle Queiroz als Solotanzende sowie Eva Dewaele als Ballettmeisterin.
SPUCK und das Ballett Zürich. Herausgeber Opernhaus Zürich. Konzept und Redaktion: Michael Küster und Claus Spahn. Gestaltung Carol Bolli. Zürich 2023.
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