Einmal Robert – sieben Mal Clara
Cathy Marstons „Clara“ in Zürich
Eine Frau sitzt in rotem Licht auf einem Stuhl. Sie hält eine in eine Wolldecke gewickelte Babypuppe (was nicht gleich erkennbar ist) in Händen, legt sie auf den Boden, begleitet von einer Musik-Collage, die an das Stimmen von Instrumenten erinnert und ebenso an ein Schlaflied für ein Kind. Die Frau schaut ernst in die Ferne und öffnet eine Tür. Schnitt.
Dieselbe Frau im Trainingstrikot, allein auf der Bühne eines Opernhauses, sie dreht sich zur „Schwanensee“-Musik von Peter Tschaikowsky auf einem definierten Rechteck und bleibt dann ruhig stehen, während die Kamera in wilder Fahrt um sie herumfährt. Schnitt. Es folgen Szenen aus dem häuslichen Bereich dieser Frau mit Kochen, Wäschelegen, Anruf bei der Kinderkrippe (dort läuft nur der Anrufbeantworter, und anhand des Dialekts wird erkennbar: Wir sind in der Schweiz). Schnitt. Es folgen Szenen aus einer Kantine, wo das Baby bewundert wird, und aus einem zugestellten Kellerraum, wo die Frau auf einem Hometrainer in die Pedale tritt, während das nicht schlafen wollende Kind über Video-Babyphon beobachtet wird. Als der Vater nach Hause kommt, fährt die Frau mit dem Motorroller in die Oper. Dort wird sie im Ballettsaal mit großem Hallo begrüßt: Giulia ist wieder da!
So beginnt der Dokumentarfilm „Becoming Giulia“ von Laura Kaehr. Es dauert eine Weile, bis man versteht, worum es hier geht – es gibt keinen Hinweis auf ein Datum oder die Protagonistin selbst. Giulia spricht Italienisch (ihre Muttersprache), Französisch oder Englisch (es gibt deutsche Untertitel), und so ahnt man nur nach und nach (sofern man nicht vorher schon die Inhaltsbeschreibung des Films gelesen hat und eh weiß, was Sache ist): Giulia ist professionelle Tänzerin. Sie hat vor kurzem ein Baby bekommen und kehrt jetzt auf die Bühne zurück. Diesen Prozess schildert der Film. Insofern ist der Titel „Becoming Giulia“ durchaus etwas missverständlich. Denn Giulia Tonelli, die Laura Kaehr, selbst ehemalige Tänzerin, hier über drei Jahre hinweg begleitet hat, ist zu diesem Zeitpunkt Erste Solistin beim Ballett Zürich, sie hat bereits eine 20-jährige Karriere hinter sich, sie ist schon wer und muss eigentlich nicht erst noch Giulia werden. Im Dezember 2018, mit Mitte 30, hat sie einen Sohn bekommen, Jacopo. Im Frühjahr 2019, drei Monate nach der Geburt, setzt sie ihre Bühnenlaufbahn fort. Von diesem Moment an bis Mitte 2021 begleitet die Kamera sie auf ihrem Weg.
Ein Satz war entscheidend
Die Idee zu dem Film entstand aus einer Neugier heraus: „Ich habe Giulia vor zehn Jahren auf der Bühne gesehen und war sehr beeindruckt“, sagt Laura Kaehr im Gespräch. „Über Facebook sind wir in Kontakt gekommen, seither sahen wir uns ein- bis zweimal im Jahr. Zwei Monate nach der Geburt ihres Sohnes, kurz bevor sie wieder in der Kompanie trainierte, gestand sie mir, sie habe Angst vor der Rückkehr auf die Bühne. Da kam mir die Idee zu diesem Dokumentarfilm. Dieser Satz von ihr war ausschlaggebend.“
Es ist eine ganz normale Angst, die wohl jede Tänzerin befällt, wenn sie nach der Geburt ihres Kindes wieder auftritt: Werde ich es überhaupt schaffen? Wie reagiert mein veränderter Körper auf die Belastung? Werde ich die frühere Virtuosität zurückerlangen? Denn der Körper verändert sich durch die Schwangerschaft. Die normalerweise durchtrainierte Muskulatur und die straffen Bänder werden durch die hormonelle Umstellung weicher und nachgiebiger. Der Beckenboden, eine bei Tänzerinnen besonders ausgeprägte Muskelschicht, die den Rumpf unten abschließt, darf dem Kind nicht den Weg nach draußen versperren – und viele Tänzerinnen liegen 24 bis 36 Stunden in den Wehen, weil es so lange dauert, bis der Beckenboden endlich soweit gedehnt ist, dass das Kind genügend Platz hat. In der Geburtsvorbereitung sind deshalb Entspannungsübungen am wichtigsten. In der Folge dann aber eben auch das Gegenteil: alles muss wieder straff werden.
Laura Kaehr hat diesen Moment der Sorge und Angst, aber auch der Freude bei Giulia Tonellis Rückkehr ins Opernhaus mit der Kamera eingefangen. Die Sorge um das Baby, das nicht einschlafen will und das so aufgeregt ist wie seine Mutter. Die Angst vor dem ersten Training, vor den Anforderungen auf der Bühne – Christian Spucks Fassung von „Romeo und Julia“ wird vorbereitet, und Giulia ist für die Hauptrolle besetzt. Und dann als Kontrast dazu die Freude, dieses tiefe innere Berührtsein, wieder auf den Brettern zu stehen, die auch für Giulia die Welt bedeuten. Elf Monate hatte sie pausiert. „Mein Sohn bereichert mein Leben, er berührt mich“, sagt sie im Film. „Aber ich habe meine eigene Identität vermisst. Ich habe ein Verlangen danach, eine Sehnsucht. Ich sehne mich danach, zu tanzen. Ich brauche es. Ich habe es so sehr vermisst.“ Und dabei steigen ihr die Tränen in die Augen.
Nicht minder berührt ist sie nach der erfolgreichen Premiere und den Standing Ovations des Publikums: „Es war wie eine Heimkehr“, sagt sie im Film wiederum unter Tränen. „Monatelang fehlte mir der Boden unter den Füßen. Das war die Wiederentdeckung meiner Welt, der Bühne. Die Bühne als Zuhause für uns Künstler.“
Potenzierte Doppelbelastung
Jede berufstätige Mutter kennt den Spagat zwischen den Anforderungen eines oder mehrerer Kinder, der Familie, der Partnerschaft, und der Erfüllung und Anerkennung, die ein geliebter Beruf mit sich bringen. Bei einer Tänzerin, schon gleich bei einer Ersten Solistin, potenziert sich das durch den Druck, nicht zu lange auszusetzen – es könnte die Karriere kosten, die bei Tänzerinnen ohnehin nur kurze Zeit währt. In der Schweiz kommt noch hinzu, dass es nicht wie in Deutschland die Möglichkeit gibt, in Elternzeit zu gehen und Elterngeld zu beantragen. Der bezahlte Mutterschutz beträgt 14 Wochen nach der Geburt. Wer danach noch bei seinem Kind bleiben möchte, muss unbezahlten Urlaub nehmen. Mit allen möglicherweise damit verbundenen Konsequenzen.
Und so kehren einige sehr früh wieder auf die Bühne zurück, manche vielleicht zu früh, zu einer Zeit, wenn der Körper noch nicht wieder bereit ist, die Höchstleistungen zu erbringen, die der Tanz ihm abfordert. Giulia gehört zu den Ausnahmefrauen, denen die Natur in die Wiege gelegt hat, schon wenige Wochen nach der Geburt wieder gertenschlank zu sein – man glaubt es kaum, wenn man sie so sieht, gerade mal ein Vierteljahr danach. Und doch rebelliert auch ihr Körper, hat sie Schmerzen – und das nicht zu knapp, im Inneren ist noch längst nicht wieder alles so straff und fest, wie es äußerlich scheint und wie es nötig ist, wenn man den Hochleistungssport einer Ballerina ausübt. „Die Sprünge sind am schwierigsten“, gesteht Giulia ihrem Physiotherapeuten. Klar – der Beckenboden bildet noch nicht wieder das gewohnte Widerlager, mit dem der Druck von oben aus dem Bauchraum abgefangen wird. Mit Pilates und einem angepassten Aufbautraining steuert sie gegen, wie sie später in einem Interview erklärt. Im Film wird das nicht erkennbar.
Dadurch, dass inzwischen viele Tänzerinnen Mutter geworden sind (2018 hatte z.B. das Staatsballett Berlin 15 Kinder, und inzwischen dürften es einige mehr sein), haben sich einige darauf spezialisiert, spezielle Programme zu etablieren, wie sich Tänzerinnen schon während der Schwangerschaft, vor allem aber im Wochenbett und in den Monaten danach gezielt wieder an die frühere Form heranarbeiten können, ohne den Körper zu schädigen. Manche haben darüber sogar Bachelor- und Masterarbeiten geschrieben.
Giulia hat darüber hinaus das Glück, dass ihr Mann, ein Ingenieur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, sie nach Kräften unterstützt. Und hin und wieder kommen auch Giulias Eltern und helfen mit. „Sardische Wiegenlieder helfen immer“, wie die Mutter im Film einmal lakonisch bemerkt.
Wir sehen in den nachfolgenden 70 Minuten des Films aber nicht nur, wie Giulia mit der Doppelbelastung als Mutter und Erste Solistin zu kämpfen hat: „Ich will nicht, dass man mir vorwirft, ich sei wegen des Kindes weniger verfügbar.“ Wir sehen auch, wie sie sich als Tänzerin weiterentwickelt. Wie sie nicht immer glücklich ist mit den Aufgaben und Korrekturen, die ihr Direktor an sie heranträgt. Wie sie sich über Probenpläne beschwert, die keine Rücksicht nehmen auf die Anforderungen einer Familie: „Wer die Arbeit organisiert, nimmt keine Rücksicht auf Mütter. […] Unsere Arbeitsverträge geben uns keinerlei Sicherheit.“ Wie sie hadert mit den romantischen, naiven Mädchen-Rollen, die sie auszufüllen hatte. Wie sie sich schwertut mit den technischen Finessen bei zwei Choreografien von William Forsythe und doch Spaß hat an dieser Herausforderung. Wie sie in der Corona-Zeit zuhause und per Video-Konferenz mit Pedro Lozano Gomez an „Room Series“ probt. Wie sie selbst ein kleines Stück choreografiert. Vor allem aber, wie sie aufblüht, als sie beginnt, mit Cathy Marston an einem neuen Stück zu arbeiten, „Der scharlachrote Buchstabe“ nach dem Roman von Nathaniel Hawthorne aus dem 19. Jahrhundert – und da schließt sich der Kreis, denn es ist das Stück, mit dem Film beginnt.
Die beiden Frauen verstehen sich auf Anhieb – Cathy Marston hat selbst zwei Kinder und weiß um die Probleme, die für Frauen durch die Doppelbelastung entstehen. Und sie thematisiert in ihren eigenen Balletten starke Frauen: Jacqueline du Pré in „The Cellist“, Jane Eyre im gleichnamigen Ballett, Queen Victoria in „Victoria“. Für Giulia ist das nachgerade eine Offenbarung. Cathy Marston hat als Tänzerin, als Ballettdirektorin und als Choreografin Karriere gemacht, beide vereint die Leidenschaft, auf der Bühne Geschichten zu erzählen. Zu dieser Zeit ahnt Giulia noch nicht, dass Cathy nicht viel später ihre künftige Chefin sein wird.
Und so beginnt eine Zusammenarbeit, die Giulia noch einmal ganz neue Tore öffnet in ihrer künstlerischen Laufbahn. Was dann letztlich doch verständlich macht, warum der Film seinen Titel trägt: „Becoming Giulia“. Jacopo hat Giulia eine neue Dimension eröffnet: „Mir gab Jacopo etwas Zusätzliches. Er macht mich zu einem noch vollständigeren Menschen. Er gibt mir das Gefühl, alles zu können. Diese Kraft hatte ich vorher nicht.“
„Becoming Giulia“
103 Minuten
Ein Dokumentarfilm von Laura Kaehr
Termine: https://www.wfilm.de/becoming-giulia/kinotermine/
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