Ein überfälliges Thema
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Die Pläne des Ballett Zürich für die Spielzeit 20/21 waren groß. Christian Spucks ehrgeizig verfremdete Choreografie von Tschaikowskys „Dornröschen“ kam zwar im Oktober letzten Jahres zur Uraufführung, verschwand aber rasch wieder von der Bühne. Natürlich wegen Corona. Edward Clug sollte am diesjährigen 1. Mai seinen einst mit dem Slowenischen Nationalballett kreierten „Peer Gynt“ nach Zürich bringen. Auch dieser Plan blieb Corona-halber stecken.
Zu einer kleinen Premiere kam es am 1. Mai aber doch. Im Zürcher Opernhaus-Saal mit seinen 1100 Plätzen durften sich 50 Personen auf weit auseinander liegende Plätze setzen und „Chamber Minds“ von Edward Clug sowie „Walking Mad“ des Schweden Johan Inger ansehen. So blieb der Hauptgang (“Peer Gynt“) zwar aus, dafür gab es zwei leckere Vorspeisen.
Allerdings handelt es sich bei den beiden Kurzstücken nicht um Erstaufführungen. Clugs „Chamber Minds“ wurde schon 2015 mit dem Ballett Zürich uraufgeführt – mit großem Zuspruch des Publikums. Ingers „Walking Man“ – so auch der Sammeltitel der Produktion – ist zwar neu für Zürich, stützt sich aber auf eine Kreation von 2001 beim Nederlands Dans Theater.
„Chamber Minds“ ist ein virtuoses, trotz oder wegen seiner experimentellen Bewegungssprache eher kühles Stück. Wärme vermittelt dagegen die Ballettsuite von Milko Lazar, einfühlsam gespielt von Naoki Kitaya am Cembalo und Ada Pesch an der Violine. Lazar, als Komponist und Instrumentalist ein musikalisches Multitalent, bildet zusammen mit Clug längst ein erfolgreiches Team. Die beiden haben schon 14 Ballette kreiert, darunter den Abendfüller „Faust“ und das Kurzstück „Hill Harper’s Dream“: Beide ebenfalls in Zürich uraufgeführt.
In „Chamber Minds“ tröpfeln je fünf Tänzerinnen und Tänzer allmählich auf die Bühne. Allein, zu zweit, zu dritt und mehr proben sie ziemlich verrückte Szenen voller Verrenkungen, Schlingfiguren, Schieflagen. Man staunt über die Raffinesse der Bewegungen und das Gedächtnis der Tanzenden – und den aufblitzenden Humor. Ansätze von Liebesgeschichten zu zweit oder in Multiamor-Gruppen entstehen, doch lösen sie sich bald wieder auf. Wie nach einem Training im Spitzensport gehen die Mitwirkenden auseinander, nach eigenem Gout oder gestoßen von Partnerin oder Partner.
In Johan Ingers Stück „Walking Mad“ wird es dramatischer und expressiver. Schon allein der Musik wegen: Ab Tonband erklingt Maurice Ravels „Boléro“ mit seinem nervigen Crescendo, gefolgt von Arvo Pärts melancholischem Klavierstück „Für Alina“. Ein starker Kontrast. Auf der Bühne tanzen jetzt sechs Männer und drei Frauen, alle Mitglieder des Ballett Zürich und dessen Junior Group. Den ganzen Abend hindurch bewegen sie sich technisch perfekt und so inspiriert, wie man das in Zürich schon fast als selbstverständlich ansieht!
Drei junge Frauen – Schwestern? - wollen hinaus ins Leben. Sie stürzen sich in ein Fest, bei dem die Männer spitze rote Clowns-Mützen tragen, oder mischen sich unter eilige Geschäftsleute mit Melonen-Hüten auf dem Kopf. Zwei Mädchen finden Spaß an diesem Treiben, entsprechend vital bis komisch entwickelt sich hier die Choreografie. Die dritte Tänzerin mag sich nicht mitfreuen. Sie lehnt sogar ihren letzten Verehrer ab, zieht sich in die Einsamkeit zurück – und leidet darunter. An einer solchen Stelle verstummt Ravels Boléro beinahe. Und nach dessen Höhepunkt wechselt die Musik dann eben zu Pärts leiser „Für Alina“.
„Walking Mad“ entstand vor 20 Jahren, als Johan Inger noch Tänzer beim Nederlands Dans Theater war. Seinem Tanzstil sieht man aber vor allem die schwedische Herkunft an. Er erinnert an die Ballette der Ikone Birgit Cullberg und deren berühmtem Sohn Mats Ek. Fünf Jahre lang leitete Inger auch selber das Cullberg Ballett, bis er es vorzog, freier Choreograf zu werden. Vital, farbig, bodenständig, breitbeinig und oft komisch ist dieser Inger-Stil. Und eben auch typisch schwedisch.
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