Dornröschen“ von Christian Spuck. Tanz: William Moore und Esteban Berlanga mit Tänzerinnen des Junior Balletts

Dornröschen“ von Christian Spuck. Tanz: William Moore und Esteban Berlanga mit Tänzerinnen des Junior Balletts

Das Drama der bösen Fee Carabosse

Christian Spucks schillernde „Dornröschen“-Fassung mit dem Ballett Zürich

Trotz Corona-Einschränkungen drängen neue Ballettproduktionen auf die Bühne - etwa „Dornröschen“ in Zürich. Die Choreografie hat Charme, Witz und Tiefsinn, ist aber noch nicht perfekt. Pikant: Das Orchester spielt in einem 1 Kilometer entfernten Provisorium.

Zürich, 12/10/2020

„Das Ballett „Dornröschen“, 1890 in der Choreografie von Marius Petipa in St. Petersburg uraufgeführt, ist unsterblich. Weniger wegen seines Librettos als wegen Peter Tschaikowskis Musik, die in direkter Zusammenarbeit mit Petipa entstanden ist. Tschaikowksi selbst empfand die Komposition als einen Höhepunkt in seiner Karriere.

Unzählige choreografische Fassungen wurden seither geschaffen. Bis hin zu Mats Eks „Dornröschen“ (1996), das fern der klassisch-romantischen Märchenwelt im Drogenmilieu spielt. So weit geht Christian Spuck nicht. Er verleugnet auch die traditionelle Ballettsprache nicht, vereinfacht sie aber, weitet sie stattdessen in manch andere Richtung aus. Die Rolle der bösen Fee Carabosse deutet er massiv um. Für sie kreierte er die spektakulärsten Auftritte im ganzen Stück.

Dazu erfindet Spuck folgende Vorgeschichte: Carabosse, in Gestalt eines Mannes wie in manch anderen „Dornröschen“-Inszenierungen - sie lebt in einem Feenreich. Von dort aus werden die Kinder zu den Menschen gebracht. Ein Königspaar, das vergeblich auf Nachwuchs hoffte, dringt in dieses Reich ein. Und stiehlt brutal jenes kleine Wesen, das Carabosse zur Obhut anvertraut war.

In rasender Wut bricht Carabosse ins Tauffest ein, verwünscht Aurora zum frühen Tod durch den Stich einer Spindel, bereut seinen Fluch aber sofort. Denn Schuld trägt ja das Königspaar, nicht das Kind. Fortan beobachtet er das Mädchen aus der Ferne, voller Reue versucht er alle Gefahren von ihm abzuhalten. Umsonst. Das Mädchen sticht sich, die Fliederfee kann den Tod nur in einen langen Schlaf umwandeln.

William Moore, für den Christian Spuck die Rolle kreiert hat, ist eine tänzerische Sensation. Mit vollem Einsatz stürzt er sich in die groß angelegten Soli mit ihren Verzweiflungssprüngen, Körperverkrümmungen und Pirouetten außer Rand und Band. Wenn er Auroras Werdegang verfolgt, halb Behüter, halb Stalker, wirkt er dagegen sehr nuanciert.

Andere Szenen in Spucks Choreografie sind eher heiter. Voller Witz, Ironie, Parodie und tieferer Bedeutung. Michelle Willems gibt eine bezaubernd leichtfüßige Prinzessin Aurora, die sich vom braven Kind zum widerständigen Teenager entwickelt. Esteban Berlanga als etwas begriffsstutziger Prinz Désiré entwickelt sich zum eleganten klassischen Tänzer. Die durchwegs von Männern gespielten Feen, alle mit Flügeln, sind köstliche Karikaturen. Besonders reizvoll dabei Jan Casier als Fliederfee mit violettem Handtäschchen.

Fast zu viel des Guten bieten die vielen Gruppentänze: Dienerschaft, Geburtstagsgäste, Schmetterlinge, Aurora-Doubles, Prinzengefolge. Es sind revueartige Auftritte, manchmal etwas überdreht oder schematisch, die Musik häufig den Divertissements im Original-“Dornröschen“ entnommen. Ohnehin stellt Spuck die Musiknummern listig um, wie er es vor drei Jahren schon bei seinem „Nussknacker“ getan hat.

Überwältigend fantasiereich sind die Kostüme von Buki Shiff. Und großartig das Bühnenbild von Rufus Didwiszus: ein Schloss mit vielen Türen und Zimmern, Gängen und Sprossenleitern. Da klettern die Tänzerinnen und Tänzer auch gern mal in die Höhe. Das Schloss füllt die ganze Bühne aus, dreht sich um die eigene Achse, bietet deshalb im Nu verschiedene Schauplätze zugleich. Spuck als besonders guter Raumchoreograf weiß das zu nutzen.

Im zweiten Akt, Jahrzehnte sind vergangen, wirkt das Schloss etwas verkommen. Die Wände sind mit Bildern und Sprüchen besprayt, die Räume halb zugewachsen. Dornröschen soll von Prinz Désiré wieder zum Leben erweckt werden. Doch der küsst sie auf die Lippen statt vorschriftsgemäß auf die Stirn. Die Fliederfee kann auch nicht helfen, so dass am Ende Carabosse einspringen muss für den erlösenden Kuss. Lustig. Aber bis es soweit ist, kann man die Abläufe nicht recht nachvollziehen. Wieso muss des Prinzen Brust aufgepumpt werden? Warum versetzt Aurora die ganze Hofgesellschaft in die Totenstarre zurück? Wie schafft sie das? Das lässt sich zwar im Programmheft nachlesen, teilt sich aber auf der Bühne nicht spontan mit. So hat der zweite Akt seine künstlerische Balance noch nicht gefunden.

Das lässt sich noch ändern. Spucks „Dornröschen“ ist in schwierigen Corona-Zeiten entstanden. Die halten noch an. Ihretwegen spielt das hauseigene Orchester, die Philharmonia Zürich, Tschaikowskis wundersame Klänge nicht im Opernhaus, sondern in einem Proberaum am Kreuzplatz, einen Kilometer davon entfernt. Und zwar live! Glasfaserkabel leiten die Musik von einem Ort zum andern. Manchmal sieht man das Orchester auf einer Filmleinwand über der Bühne. Man bewundert den Dirigenten Robertas Šervenikas, die Soloviolinistin Hanna Weinmeister. Technisch ist diese Lösung eine Meisterleitung, aber man wünscht sich das Orchester doch heftig ins Opernhaus zurück.

Beim reichlich gespendeten Schlussapplaus strahlten die Tänzerinnen und Tänzer. Sie hatten wie Spitzensportler in sogenannten Infektionsgruppen gearbeitet und mussten viele Einschränkungen in Kauf nehmen. Jetzt waren sie maskenfrei. Choreograf Spuck, Bühnenbildner Diswiszus und Kostümbildnerin Shiff haben wohl auch gestrahlt, aber ihr Gesichtsausdruck blieb weiterhin unter Corona-Masken verborgen.
 

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