Ein überfälliges Thema
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Christian Spucks phantastischer „Nussknacker und Mausekönig“ mit dem Ballett Zürich
Der „Nussknacker“ zu Pjotr Tschaikowskis Musik sucht um Weihnachten herum alle möglichen Ballett-Truppen heim. Die meisten Versionen berufen sich auf die Originalfassung von Marius Petipa und Lew Iwanow, 1892 in St. Petersburg uraufgeführt. Doch wenn man den „Nussknacker“ zu oft gesehen hat, beginnt die Langeweile. Nicht der Musik, sondern des Librettos wegen. Der erste Akt mit dem Weihnachtsfest bei der Familie Stahlbaum, gute dreiviertel Stunden lang, besteht weitgehend aus Pantomime und Kinderkram. Den Divertissements im zweiten Akt droht der Kitsch.
Darum haben viele Choreografen nach spannenderen Versionen gesucht. Sie haben Stahlbaums Töchterchen Clara zur Ballettelevin gemacht (John Neumeier), das Stück in die Welt von Charles Dickens versetzt (Youri Vámos), das Libretto durch eine ganz persönliche Geschichte ersetzt (Maurice Béjart). Durchaus mit Erfolg. In punkto Musik ist aber noch kaum jemand so weit gegangen wie Christian Spuck. Er wirbelt die Reihenfolge der Sätze durcheinander - und verärgert trotzdem kaum jemanden. Entstanden ist eine opulente Show, voller Ironie und tieferer Bedeutung.
Natürlich ist man zunächst schockiert, wenn das Ballett mit jener Melodie aus dem 2. Akt einsetzt, die eigentlich zum Tanz der Zuckerfee gehört. Und das erst noch von einer melancholischen Clownin (Ina Callejas) solo auf dem Akkordeon gespielt. Kurz darauf erklingt schon der Schlusswalzer samt Apotheose, versetzt in Drosselmeiers Werkstatt, der zum Gaudi der beiden Patenkinder seine Rokoko-Marionettensammlung in Bewegung setzt, als handle es sich um richtige Menschen. Den großen Auftritt der Zuckerfee, bei Spuck eines der wenigen rein klassischen Soli, tanzt eine strahlende Viktorina Kapitonova – und das ausgerechnet zur Musik des Arabischen Divertissements, sonst dem Nationaltanz gewidmet. Scheint abstrus, aber es klappt. Man hört die Musik wie neu.
Den Inhalt des Balletts hat Spuck erweitert: Mit Motiven, die er in E.T.A.Hoffmanns Erzählung „Nussknacker und Mausekönig“ wieder entdeckt hat. Die Librettisten der ersten Stunde, darunter Marius Petipa, hatten das Kunstmärchen simplifiziert. Spucks Fassung ist detailreicher als die meisten „Nussknacker“-Ballette, vieldeutig und von weiträumiger Fantasie. Dazu voller Zauber- und Schreckmomente wie bei Hoffmann, dem Dichter. Allerdings: In punkto Logik der Handlung ist mehr verloren als gewonnen.
Die Clara aus dem traditionellen „Nussknacker“-Libretto hat Spuck in Marie zurück getauft, wie sie auch bei E.T.A. Hoffmann heisst. In drei Szenen lässt der Choreograf das Märchen der Prinzessin Pirlipat über die Bühne gehen, wie sie Pate Drosselmeier den Kindern erzählt. Pirlipat ist von Frau Mauserinks zu einem Nüsse fressenden Monster verzaubert worden, als Rache dafür, dass ihr Vater eine Maus erstochen hat... Pirlipat wird von Giulia Tonelli, Marie von der mädchenhaften Michelle Willems getanzt. Beide haben sich Spucks Tanzstil spielend angeeignet: klassisch und zeitgenössisch gemischt, dazu mit je eigenen Bewegungen versehen, die zur Rolle passen. Für das Heer der Mäuse springt das Juniorballett aus den Verstecken.
William Moore in der Mehrfachrolle von Traumprinz/ Nussknacker/ Drosselmeier-Neffe ist ein toller Verwandlungskünstler. Aber keiner macht so viel aus seiner Rolle wie Dominik Slavkovsky – the best Drosselmeier ever seen! Anders als in Hoffmanns Erzählung sieht er gut aus: Eine große schlanke Gestalt, ganz in Schwarz, mit langen Gliedern und nervösem Fingerspiel. Drosselmeier, Magier und Künstler, Spieler und Kinderversteher, steht fast immer auf der Bühne, verfolgt das Geschehen, greift aktiv ein, wenn er es für nötig hält. Er verteidigt Marie gegen ihren frechen Bruder Fritz (Daniel Mulligan), begleitet sie in eine Traumwelt à la Alice im Wunderland. Und ist so unglaublich beweglich, als habe er keine Gelenke.
Dirigent Paul Connelly musste wohl manche musikalische Nuss knacken, um dieser neu strukturierten Tschaikowski-Musik Herr zu werden. Als er Connelly die Pläne unterbreitete, habe dieser immer wieder „O God, o God“ geseufzt, erzählte Spuck bei einer Sonntags-Matinee zum seinem „Nussknacker und Mausekönig“. Der Dirigent bestätigte das lachend. Nun aber hat er das Zürcher Philharmonia-Orchester fest im Griff. Es spielt außerordentlich präsent und klangvoll, mit virtuosen Bläsersoli – manchmal aber so laut, dass die Ohren weh tun.
Während im „Nussknacker“ normalerweise auch tanzende Kinder mitwirken, verzichtet Spuck darauf. Nur den Kinderchor im Schneeflocken-Walzer hat er beibehalten. Für die kindlich-jugendlichen Rollen hat er dafür eher klein gewachsene Tänzerinnen und Tänzer gewählt. So Primaballerina Yen Han (über 40, zwei Kinder!) und Matthew Knight in bezaubernden Auftritten als Clowns-Pärchen. Auffallend beim Zürcher Ballett, wie verschieden seine Mitglieder aussehen - als Kontrast zu den kleineren ist in dieser Spielzeit die große Elena Vostrotina engagiert worden. Sie tanzt elegant die Schneekönigin.
Zum „Nussknacker“ gehören große Gruppenauftritte, welche die ganze Bühne füllen. Spuck hat diese Divertissements beibehalten, aber mit neuen Handlungs-Elementen verbunden. Traditionell wirkt am ehesten noch der Schneeflocken-Walzer, wobei die Tänzerinnen pikanterweise nicht weiße, sondern schwarze Röcke tragen, mit Lichtlein drauf. Im Blumenwalzer haben die Tänzerinnen einen Partner bekommen. Diese tragen Blumen im angeklebten Bart, während die Frauen ein Tutu aus Blumenblättern tragen. Die vergnügliche Leadership haben hier Anna Khamzina und Alexander Jones.
Überwältigend ist die Ausstattung für „Nussknacker und Mausekönig“. Buki Shiff hat die Kostüme mit opulenter Fantasie gestaltet. Sie sind liebreizend, umwerfend, zum Teil allerdings etwas überladen, und entsprechend kann es schwierig sein, darin zu tanzen. Shiff hat erstmals in ihrem Leben ein Ballett ausgestattet. Das gilt auch für Bühnenbildner Rufus Didwiszus: Schauplatz ist bei ihm eine Mischung von Werkstatt, Museum, Raritätenkabinett und Revuetheater. Lichtspiele wagen sich bis in den Zuschauerraum hinein, klettern zu den Logen hoch. Hinten im Raum steht eine weitere, kleinere Bühne. Wobei die verschiedenen Personengruppen – etwa die belebten Marionetten im 1. Akt – die verschiedenen Schauplätze nicht logisch teilen. Ein Entzückungsschrei ging durch den Zuschauerraum, als sich plötzlich ein riesiges Uhrpendel über die Bühne senkte. Es schwang hin und her, verschwand dann wieder.
Gewaltiger Beifall am Ende der Zürcher Premiere, die eigentlich eine veritable Uraufführung ist. Und eine große Überraschung: Das Bolschoi-Ballett hat zu Ehren von Marius Petipas 200. Geburtstag ein internationales Festival ausgerichtet. Gezeigt werden Produktionen, die sich mit dem Schaffen des berühmten Choreografen auseinandersetzen und es neu interpretieren. Nun ist als erstes das Ballett Zürich mit seinem „Nussknacker und Mausekönig“ dazu eingeladen. Gebucht schon vor der Premiere! Die Aufführungen im Bolschoi finden am 28./29. November statt. Auf das Echo des Moskauer Publikums darf man gespannt sein.
Uraufführung am Zürcher Opernhaus: 14.10.2017.
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