Ein überfälliges Thema
Dokumentarfilm „Becoming Giulia“ läuft ab 18. Januar in den Kinos
Cathy Marston, die künftige Direktorin des Balletts Zürich, ist mit „The Cellist“ beim Publikum gut angekommen
Das Ballett Zürich bekommt ab nächster Spielzeit eine neue Leitung. Nach elf äußerst erfolgreichen Jahren in der Schweiz wechselt Christian Spuck als Intendant zum Staatsballett Berlin. Seine Nachfolgerin wird Cathy Marston. Schon jetzt, vor ihrem Antritt, hat die gebürtige Engländerin (48) mit dem Zürcher Ensemble ihr Ballett „The Cellist“ einstudiert, das sie 2020 mit dem Royal Ballet in London uraufführte. Das Stück über die jung verstorbene Cellistin Jacqueline du Pré – das sei vorweggenommen – hatte bei der Premiere in Zürich großen Erfolg.
Spuck und Marston haben einiges gemeinsam. Beide begannen spät eine klassische Tanzausbildung. Beide sind literarisch interessiert. Entsprechend lieben sie Handlungsballette – Spuck choreografierte zum Beispiel „Woyzeck“ oder „Leonce und Lena“ nach Georg Büchner, Cathy Marston den Roman „Sturmhöhe“ von Emily Brontë. Ihre Stücke kombinieren die klassische Ballettsprache (inklusive Spitzentanz) mit zeitgenössischen Formen, ziehen Alltagsbewegungen mit ein, muten den Tänzerinnen und Tänzern auch Schaupieleinsätze zu. Und das alles bei hohem technischem Niveau. Daran wird sich beim Ballett Zürich nichts ändern.
Marstons „The Cellist“ ist ein Handlungsballett, das nicht an eine literarische Vorlage anknüpft, sondern an die Biografie von Jacqueline du Pré (1945-87): Dem strahlenden Naturtalent aus Oxford, das sich vom Kinderstar zur weltberühmten Cello-Künstlerin entwickelte. Ihre Plattenaufnahmen etwa von Edward Elgars „Konzert für Violoncello und Orchester in e-Moll“ sind bis heute begehrt. Noch nicht dreißig Jahre alt, erkrankte Jacqueline an Multipler Sklerose und starb nach 14 Jahren Leidenszeit.
Giulia Tonelli tanzt die Rolle mit Leidenschaft und großer Einfühlungsgabe. Dass sich Marston und sie beim Schlussapplaus lange umarmten, hat eine interessante Vorgeschichte. Der vor kurzem veröffentliche Film „Becoming Giulia“ von Laura Kaehr handelt von Tonellis Leben zwischen Familie und Erster Solistin am Opernhaus Zürich, einem oft strapaziösen Balanceakt. In Kaehrs Film begegnet Tonelli eher zufällig Cathy Marston, noch vor deren Engagement nach Zürich. Beide waren einander von Anfang an sympathisch. Beide sind Familienmenschen mit Mann und Kindern: Tonelli hat zwei kleine Söhne, Marston zwei Mädchen im Primarschulalter. Nun hat Marston in Zürich die Rolle der Jacqueline du Pré an Giulia Tonelli vergeben, trotz deren „Doppelbelastung“. Experiment gelungen! (Alternierend mit Tonelli tanzt Francesca Dell’Aria die Titelrolle).
Der zündende Einfall in „The Cellist“ besteht darin, das Stradivari-Cello zu vermenschlichen. Der charismatische Wei Chen im cellofarbigen Kostüm wird so zum Tanzpartner der kleinen Jacqueline und bleibt bei ihr bis zum Tod. Sie spielen zusammen, steigern einander zu Höchstleistungen; nach Ausbruch der Krankheit stößt sie ihn jedoch auch wiederholt von sich. Marston erfand für das Paar spezielle Tanzbewegungen, so setzt du Pré ihre Finger manchmal auf seinen hochgestreckten Arm wie auf ein Griffbrett. Anfänglich bestimmt er die Abläufe, dann eher sie; er hebt sie in die Luft, sie wirft sich schwungvoll auf seinen Rücken. Die ungewohnten Pas de Deux der beiden sind glanzvolle Höhepunkte in „The Cellist“.
Als Dritter im Bunde tritt bald einmal ein Dirigent auf – gemeint ist Daniel Barenboim. Jacqueline und er verlieben sich ineinander, veranstalten zusammen Konzerte, heiraten schon bald. Mit Barenboim, getanzt vom wendigen Esteban Berlanga, erweitern sich die erwähnten Pas de Deux zu ebenso intensiven, nun kompliziert verschlungenen Pas de Trois. Voller Begeisterung für die Musik und nicht ohne Spuren von Eifersucht. Die Namen du Pré und Barenboim kommen im Personenverzeichnis übrigens nicht vor, es ist lediglich von „Die Cellistin“ und „Der Dirigent“ die Rede, aber die Zusammenhänge sind klar.
Zu den drei Haupt- kommen fein getanzte Nebenfiguren wie die musikbegeisterte Mutter (Mélanie Borel), die Schwester (Inna Bilash) oder Jacqueline als Kind (die lebhafte Oceana Zimmermann). Die Gruppenszenen – Spielplatz, Schule, Feste, Konzerte – sind locker im Raum verteilt. Da kommen auch einmal Ausdrucks- oder Nationaltanz zum Zug.
So reiht sich lückenlos Bild an Bild, und wenn man etwas vermisst, dann sind es die dazu gehörenden Ruhephasen. Nach einem stimmigen Auftakt spielt sich Jacqueline du Prés Leben im Zeitraffer ab. Kaum ist die Hochzeit vorbei, kündet sich bei der jungen Frau die Krankheit, Multiple Sklerose, an: Das Vibrato der Finger auf dem Cello wird zum Zittern, die Hände werden taub, die Füße versagen. Die junge Frau landet im Rollstuhl. Vor dem Tod ein letzter Tanz mit dem Cello-Mann, vorbeihuschende Erinnerungen an Kindheit und Jugend, eine Schallplattenszene Das alles geht viel zu schnell. „The Cellist“ könnte statt 65 Minuten gern anderthalb Stunden dauern.
Das Szenarium hat Marston zusammen mit ihrem langjährigen Mitarbeiter Edward Kemp ausgearbeitet. Der Musiker Philip Feeney sollte zunächst eine Original-Komposition schaffen, doch erwies es sich dann als naheliegender, bestehende Cello-Stücke auszuwählen und mit eigenen Kreationen zu verbinden. Stücke aus du Prés Repertoire: An erster Stelle Edgar Elgars erwähntes Violoncello-Konzert, aber auch Kammermusik-Werke von Beethoven, Mendelssohn, Rachmaninow oder Gabriel Fauré. Im Orchestergraben spielte Lev Sivkov ebenso souverän wie versteckt auf dem Cello; zuletzt auf der Bühne erhielt er immerhin besonders viel Schlussapplaus. Dazu kamen Kateryna Tereshchenko am Klavier und die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Paul Connelly.
Ab der Spielzeit 2023/24 übernimmt Cathy Marston nun also die Direktion des Balletts Zürich. Die Schweiz ist für die gebürtige Engländerin alles andere als Neuland, sie besitzt inzwischen auch die hiesige Staatsbürgerschaft. Marston begann als 19-Jährige in der Schweiz zu tanzen, 1994-1999 nacheinander bei den Ensembles in Zürich, Basel und Bern. 2007-2013 wirkte sie als Ballettchefin und -choreografin in Bern. Später choreografierte sie als Freelancer querfeldein, in England, Dänemark, Finnland, Kuba, Australien, Hongkong. Das zeugt von ihrer Kreativität und Vitalität. Heute lebt mit ihrer Familie in Bern. Wie sie alle Aktivitäten unter einen Hut bringt, bleibt ihr Geheimnis.
Jacqueline du Pré wurde von ihrem Ehemann „Smiley“ genannt. Der Name würde auch zu der umgänglichen Cathy Marston passen. Und nun ist klar: Mit „The Cellist“ ist sie in Zürich angekommen.
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