„Glass Pieces“ von Jerome Robbins, Tanz: Ballett Zürich und Junior Ballett

Eröffnungsmenu mit drei Gängen

Das Ballett Zürich tanzt Stücke von Wayne McGregor, Jerome Robbins und der neuen Ballettdirektorin Cathy Marston

Erstaunlich und hoch erfreulich, wie gut sich das weitgehend neu zusammengesetzte Ensemble präsentiert.

Zürich, 08/10/2023

Das Programm unter dem Sammeltitel „Walkways“ sei ähnlich wie ein Dreigang-Menu, sagte die neue Ballettdirektorin Cathy Marston in einem Interview. Das heißt: Eine Vorspeise, ein Hauptgang, ein Dessert.

Der Vergleich erwies sich bei der Premiere am Zürcher Opernhaus als zutreffend. Es beginnt mit einer Vorspeise mit exquisiten Appetithäppchen („Infra“ von Wayne McGregor, 2008), darauf folgen eine gehaltvolle Hauptspeise („Snowblind“ von Cathy Marston, 2018) und eine überwältigend prickelnde Nachspeise („Glass Pieces“ von Jerome Robbins, 1983).

„Walkways“ enthält keine Uraufführung, sondern „nur“ bereits bewährte Stücke. Ungewohnt: In allen drei Balletten wird zumindest teilweise auf Spitze getanzt. Neoklassik ist die vorherrschende Form bei Robbins. Marston mischt klassisches Ballett mit theatralisch eingesetztem Ausdruckstanz. Aber auch McGregor, der besonders progressive Zeitgenosse, verzichtet diesmal nicht auf Spitzenschuhe. Doch eins nach dem andereren.

 

„Infra“ – echte und unechte Figuren

 

Auf Deutsch bedeutet „Infra“ soviel wie „darunter“. Das bezieht sich hauptsächlich auf die Zweiteilung des Bühnenbildes. Oben laufen weiß umrissene Kunstfiguren mit rundem Kopf, aber ohne Gesicht und mit abgedeckten Füßen von rechts nach links und umgekehrt: LED-Projektionen in der Endlosschleife. Darunter zwölf reale Tänzerinnen und Tänzer. Es herrscht Großstadt-Stimmung, alle eilen aneinander vorbei, übersehen eine leidende Person am Straßenrand, finden aber auch immer wieder zu kurzen Pas de Deux zusammen. Zuletzt sogar zu einem langen Liebes-Duett (Sujung Lim und Brandon Lawrence).

Der Choreograf Wayne McGregor ist bekannt für seine künstlerische und wissenschaftliche Neugier. Daraus gewonnene Kenntnisse kommen auch der Tanztechnik zugute. Diese wirkt sehr athletisch, mit extrem gestreckten Arm- und Beinbewegungen und mit Figuren, wo man nicht recht weiß, was oben und unten ist. Im Gemenge von klassischen Tanzformen, deren Auflösung und eigenen Erfindungen erinnert der Engländer McGregor ein wenig an den Amerikaner William Forsythe.

Das Musikkombi von Max Richter in „Infra“ erklingt ab Tonträger. Es wirken aber auch hauseigene Solisten am Klavier, auf Violine, Viola und Cello mit. In den beiden folgenden Balletten spielt die Philharmonie Zürich inspiriert und äußerst temperamentvoll (Glass!) unter Daniel Capps.

 

„Snowblind“ – lebhaftes Handlungsballett

 

Ballettchefin Cathy Marston, englisch-schweizerische Doppelbürgerin, kreiert vor allem Handlungsballette. In „Snowblind“ stützt sie sich auf den Roman „Ethan Frome“ (1911) der Amerikanerin Edith Wharton. Verkürzt läuft die Handlung so: Ethan Frome, ein armer Farmer in New England, lebt in unglücklicher Ehe mit seiner hypochondrischen, aber auch echt kranken Frau Zeena. Deren lebensfreudige Nichte Mattie kommt als Dienstmädchen ins Haus. Ethan und sie verlieben sich ineinander, werden entdeckt, Zeena wirft Mattie aus dem Haus. Die Liebenden sind verzweifelt, sie wollen sich im nächtlichen Schneesturm umbringen, werden gerettet, müssen den Rest ihres Lebens zu Dritt weiterführen.

Marston setzt die Handlung in einfallreich plastischen Tanz um. Als lebensbejahender Mensch gestaltet sie das Ende der Geschichte etwas milder als die Autorin Wharton, wo Mattie selber zum Quälgeist wird und Ethan sich in Schweigen bis hin zur geistigen Umnachtung zurückzieht. In Marstons Choreografie finden die Figuren in einem zwar komplizierten, aber letztlich einigermaßen würdigen Dreieck zusammen.

Die 15-köpfige Gruppe tanzt mal bei einem Dorffest, mal löst sie sich zu Schneeflocken auf, die in dunkler Sturmnacht herumgeistern. Ein winterlich weiß verbrämter Vorhang trennt Außen und Innen; hier stehen Bett und Stuhl über dem Wohnzimmer auf einer höheren Ebene. Marston lässt im Raum dynamische Bilder entstehen, erfindet vielsagende Gesten und Bewegungen. Schade nur, dass die einzelnen Szenen so dicht aufeinander folgen, dass man dazwischen kaum nachkommt.

Die Ballettpartitur zu „Snowblind“ hat Philip Feeney – ein enger Mitarbeiter von Marston – aus verschiedenen Kompositionen zusammengestellt; der Hauptanteil stammt von Arvo Pärt. Für die drei Hauptrollen haben sich vier verschiedene Teams vorbereitet. Bei der Premiere waren es Charles-Louis Yoshiyama als Ethan, Dores André als Mattie und Shelby Williams als Zeena. Ein eindrückliches Trio. Die Besetzung wechselt von Mal zu Mal – soll man nun alle besuchen?

 

„Glass Pieces“ – der brillante Neoklassiker

 

Zum Hit des Abends wurde „Glass Pieces“ mit Einsatz des ganzen Ensembles samt Junior Group. So mitreißend wie die gleichnamige Minimal Music von Philip Glass entwickelt sich der Tanz. Großstadt-Stimmung herrscht, ähnlich wie bei McGregor, wobei man diesmal eher an New York als an London denkt. Auf der Bühne wird hektisch herumgeeilt, es knistert, die Tänzerinnen bewegen sich auf Spitze oder Halbspitze. Schöne Körper in vielfarbenen Trikots. Ein Energieschub fügt sie zu Gruppen zusammen, es entstehen Linien und Kreise wie mit Zirkel und Lineal gezogen. Dann ein wunderbarer Pas de Deux von Elena Vostrotina und Brandon Lawrence.

Eine Zeitlang tänzeln Frauen im Gegenlicht so zierlich wie elegant an der hinteren Wand entlang. Eine Szene mit zwölf Männern erinnert in ihrer Attacke an das 1957 in New York uraufgeführte Musical „West Side Story“, das ja auch von Jerome Robbins stammt. Am Schluss von „Glass Pieces“ steigern sich Musik und Tanz so gewaltig, dass man sich kaum auf den Sitzen halten kann. Das Publikum applaudierte nach jedem Satz.

 

Das neue Ballett Zürich – geschlossen und technisch perfekt

 

Es ist erstaunlich und hoch erfreulich, wie geschlossen und technisch perfekt sich das neue Ballett Zürich bereits präsentiert. Christian Spuck hat bei seinem Wechsel als Chef des Balletts Zürich zum Ballettintendanten in Berlin einige seiner besten Leute mitgenommen. Umgekehrt ist weit über die Hälfte der Tanzenden erst jetzt nach Zürich gekommen. Sie sehen extrem unterschiedlich aus und stammen aus aller Welt.

Von den Ersten Solistinnen und Solisten sind vier neu: Dores André, Max Cauthorn, Brandon Lawrence und Charles-Louis Yoshiyama. Drei sind geblieben: Giulia Tonelli, Elena Vostrotina und Esteban Berlanga. Geblieben sind auch die beiden Ballettmeister Jean-François Boisnon und Daniel Otevral, neu ist die Ballettmeisterin Anastacia Holden. Zürich die Treue gehalten hat der vielbeschäftigte Dramaturg Michael Küster.

Das Premieren-Publikum – auch jener Teil, der Spucks Weggang noch immer beklagt – zollte der neuen Ballettdirektorin Cathy Marston sowie allen Mitwirkenden jubelnden Beifall.

 

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