Ein überfälliges Thema
Dokumentarfilm „Becoming Giulia“ läuft ab 18. Januar in den Kinos
Eine bewundernswerte Kreation: „Atonement“ von Cathy Marston mit dem Ballett Zürich
Briony Tallis ist 13-jährig, pubertierend, mit überreichlich Fantasie begabt. Sie wächst in einem vornehmen Cottage inmitten einer englischen Gartenlandschaft auf. Ihre ältere Schwester Cecilia liebt Robbie Turner, den Sohn der Haushälterin. Dieser wird von der Familie Tallis weit besser behandelt als das gewöhnliche Dienstpersonal.
Briony beobachtet Cecilia und Robbie bei verborgenen Liebesspielen. Sie ist verwirrt und auch eifersüchtig. Bald ziehen im Landhaus Gäste ein, Verwandte und Freunde. Die Jungen amüsieren sich mit allerlei Spielen. Doch am Rande entdeckt Briony, wie ihre Cousine Lola vergewaltigt wird. Der Täter – es handelt sich um einen Freund des Hauses – macht sich aus dem Staub. Ohne konkretes Wissen beschuldigt Briony Robbie als vermutlichen Täter. Eine Welt bricht zusammen, Robbie endet im Gefängnis. Nur Cecilia und seine Mutter sind von seiner Unschuld überzeugt.
Ein literarischer Bestseller als Tanzstück
Soweit der erste Teil von Ian McEwans vielschichtigem Roman „Atonement“ (2001). Das Buch des englischen Autors ist deutsch unter dem Titel „Abbitte“ bei Diogenes erschienen. Den Bestseller in Tanz umzusetzen, verlangt einen fast verwegenen Mut. Ballettdirektorin Cathy Marston hat ihn aufgebracht. Weitgehend mit Erfolg. Zusammen mit ihren Tänzer*innen und Mitarbeiter*innen ist ihr ein stimmungsvolles, emotionales, mit vielen originellen Details ausgestattetes Handlungsballett gelungen. Marstons choreografische Fantasie scheint unermesslich, doch ihre sehr hohen tänzerischen Anforderungen werden durchweg erfüllt. Eine Gefahr besteht allerdings darin, dass jene, die das Buch nicht kennen, die inhaltlichen Zusammenhänge nicht im Detail erfassen können.
Im Eröffnungsbild des Balletts tröpfeln also die Gäste in Sommerstimmung zum großen Gartenfest der Familie Tallis ein. Im Stil traditioneller Handlungsballette des 19. Jahrhunderts vergnügen sie sich mit Tanz- und Theaterspielen. Getanzt wird klassisch, die Frauen meist auf Spitze, wobei Marston ihre Auftritte mit frechen, lustigen Akzenten durchsetzt. Bereits profilieren sich die drei Hauptfiguren: Die eigensinnige und ein bisschen eingebildete Briony (Inna Bilash) sowie Robbie (Brandon Lawrence) und Cecilia (Max Richter), das allmählich sich findende Liebespaar. Bilash bekommt bei aller Virtuosität einen leicht kratzigen Tanzstil verpasst, während das Liebespaar seine ganze Energie, seinen Charme und seine stupende Technik einsetzen darf. Max Richter ist nicht-binär, aber das spielt in diesem Ballett keine Rolle. Er/sie ist einfach eine überzeugende Cecilia.
Eroberungslust und Leidenschaft
Höhepunkt dieses ersten Teils ist ein weit ausholender, intensiver Pas de Deux von Robbie und Cecilia, mit kaum je gesehenen Verschlingungen und Hebefiguren, changierend zwischen Eroberungslust und wachsender Leidenschaft. Beklemmend die Szene der Vergewaltigung von Lola Quincey (McKhayla Pettingill) durch den Festteilnehmer Paul Marshall (Charles-Louis Yoshiyama), die sich hinter einem durchsichtigen Vorhang abspielt. Die beiden tauchen übrigens später wieder auf – als dubioses Ehepaar.
Die Vergewaltigung und Brionys Falschaussage haben nicht nur dem Sommerglück ein Ende gesetzt. Auch die malerische Landschaft verschwindet hinter allerlei Vorhängen (Bühne Michael Levine, Kostüme Bregje van Balen). Es kommt zur Zeitenwende. Bald beginnt der Zweite Weltkrieg.
Die Fortsetzung von McEwans Roman besteht aus zwei Hauptsträngen. Einerseits handelt sie von den schrecklichen Ereignissen des Krieges, in den auch Ronnie als Soldat der britischen Armee geschickt wird. Anderseits begegnen wir Briony, die bei McEwan zur Schriftstellerin, bei Cathy Marston zur Choreografin geworden ist. Sie arbeitet an einem Ballett, worin sie die leidenschaftliche Geschichte von Cecilia und Ronnie, die Vergewaltigung Lolas und deren spätere Hochzeit mit dem wirklichen Täter nacherzählt – mit einer Art Happy End für Cecilia und Ronnie, die sich nach dem Krieg wiederfinden.
Kein klassisch-romantisches Handlungsballett
Spannend, wie Marston die beiden Stränge miteinander verbindet: Einmal trainieren zwölf Tänzerinnen und Tänzer vorn an der Ballettstange, während hinten zwölf Soldaten unter hartem Kommando ihre zackigen Kampfübungen absolvieren. Weitere Szenen bedienen abwechselnd mal den einen, mal den anderen Geschichten-Strang. Der Tanz ist oft auf Gruppen mit meist zwölf Mitwirkenden ausgerichtet. Neben den Soldaten sind das zum Beispiel einheitlich gekleidete Krankenschwestern, welche die verwundeten Soldaten pflegen. Wenn sie in Reih und Glied agieren und dabei synchron weiße Laken durch die Luft schwingen, fühlt man sich an Ballet-Blanc-Akte à la „Schwanensee“ oder „Giselle“ erinnert. Obwohl die Stimmung nichts mehr mit klassisch-romantischem Handlungsballett zu tun hat, sondern eher mit „Der grüne Tisch“ von Kurt Jooss. Immer wieder verblüfft Cathy Marston mit solchen Einfällen. Und die Mitwirkenden, Solist*innen und Corps de ballet, sind ihnen stets gewachsen.
Dann fällt der Schlussvorhang, das Publikum reagiert mit Applaus und Bravorufen – doch plötzlich geht er wieder auf! Im Halbdunkel bewegen sich die Gestalten wieder, wenn auch in Zeitlupe. Aus dem Off erklingt das Interview eines Reporters (Michael Küster) mit Old-Briony (Kate Strong), die in gebrochenem Deutsch antwortet. Aus dem Gespräch geht hervor, dass Cecilia und Ronnie in Wirklichkeit nicht mehr aufeinandertrafen. Ronnie starb verletzt am Strand von Dünkirchen an einer Blutvergiftung, Cecilia kam bei einem Bombenangriff in London um. Der Roman bzw. die Choreografie hat ihnen ein Weiterleben geschenkt.
In dem Interview, verfasst von Marstons künstlerischem Mitarbeiter Edward Kemp, geht es um weitere Themen wie Wahrheit und Wirklichkeit oder Jugend-Psychologie. Sehr anspruchsvoll, wenn man den Roman „Atonement“ nicht kennt. Auch ist das Interview wegen zu lauter Musik manchmal schlecht verständlich.
Musik von Laura Rossi: ein Glücksfall
Ansonsten war es ein glücklicher Entscheid von Cathy Marston, die englische Komponistin Laura Rossi für die Ballettmusik zu engagieren. Rossi ist Professorin für Filmmusik in London, aber auch in vielen andern Bereichen beschäftigt, von Klassik bis Pop. Der Musikteppich zu „Atonement“ wurde gewissermaßen gemeinsam gewoben: Marston und Rossi besprachen sich in einer Menge von Zooms zwischen Zürich und London über die Gestaltung einzelner Szenen.
Herausgekommen ist eine wohlklingende, dynamisch-farbige Ballettmusik, molto espressivo, oft mit viel Blech, gespielt mit Verve von der Philharmonia Zürich unter Jonathan Lo. Über die Basis schwingen sich melodiöse Bögen, wobei den drei Hauptpersonen ein einzelnes Instrument zugeordnet wird: Klavier für Briony, Geige für Cecilia, Cello für Robbie. Leitmotive erklingen, und manchmal glaubt man auch, Zitate aus alten Balletten wie „Giselle“ zu hören.
Nach dem zweiten, endgültigen Schlussvorhang zeigt sich das Publikum, darunter viele englische Gäste samt Autor Ian McEwan himself, begeistert. Bis hin zur Standing Ovation.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments