„Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier

Im Triebwagen zur Endstation

John Neumeiers Ballett „Endstation Sehnsucht“ erstmals in Prag

Vor 40 Jahren feierte John Neumeiers Tanztheater-Meisterwerk Premiere. Immer noch ist erstaunlich, wie es ihm gelungen ist, durch den Tanz neue Perspektiven auf Tennesse Williams' Drama zu eröffnen.

Prag, 17/01/2023

Die Bühne des historischen Prager Ständetheaters ist leer. Nur ein Bett. Ein Krankenbett, oder eher eines im Irrenhaus? Auf diesem armseligen Requisit eine Frau. Es herrscht Stille, schmerzhafte Stille. Die Frau, das ist Blanche DuBois, hat alles verloren, wurde als Lehrerin gefeuert. Ihr bleiben nur ein lumpiger Koffer, zerschlissene Habseligkeiten, Kleider, die an bessere Zeiten erinnern, ein kleines Radio.

Vor 40 Jahren feierte John Neumeiers Tanztheater-Meisterwerk „A Streetcar named Desire“ nach dem 1947 in New York uraufgeführten Drama von Tennessee Williams seine Premiere beim Stuttgarter Ballett. Und bis heute, gerade angesichts der tschechischen Erstaufführung beim Ballett des Prager Nationaltheaters, ist es unglaublich, wie es Neumeier gelungen ist, neue Perspektiven durch den Tanz zu eröffnen, die auch nicht durch Verfilmungen oder Vertonungen des Dramas im Geringsten an bedrückender Kraft verloren haben.

In der Prager Aufführung tanzt Alina Nanu die Rolle der Blanche Du Bois, die diesem „Triebwagen“ der Sehnsucht nicht entkommt. Ihr bleibt nur die Flucht nach New Orleans zu ihrer  Schwester Stella (getanzt von Irina Burduja). Stella wohnt mit ihrem Mann, dem polnischen Eiwanderer Stanley Kowalski - grandios getanzt und dargestellt von Paul Irmatov -, an jener Endstation einer Straßenbahnlinie, die hier keine Nummer, sondern einen Namen hat: „Desire“ - „Sehnsucht“ oder „Begierde“.

Zuvor ist Blanche geflohen, getrieben vor allem von Sehnsucht, aber schon hier im Wahn verdrängter Wirklichkeit und idealisierter Flucht. Es geht schief, denn die Vergangenheit holt sie immer wieder ein, auch hier am vermeintlichen Ziel ihrer Sehnsucht. Nichts lässt sich verdrängen: der Ruin, der Verlust des Anwesens, die Beziehungen, vor allem die Heirat mit Alan Gray. Auch er ein Flüchtling vor sich selbst. Er scheitert daran, dass er seine Homosexualität verdrängt. Im tragischen Bewusstsein, dass er niemals eine Endstation seiner Sehnsucht erreichen wird, nimmt er sich das Leben. Diese Zerrissenheit kann Federico Ievoli in tragischer Sensibilität tänzerisch so kraftvoll wie feinsinnig gestalten.

Und wenn dann, in einem traurigen Viertel von New Orleans, die Menschen an dieser „Endstation“ ihrer Irrwege aufeinander treffen, dann gibt es keinen Ausweg, auch wenn Blanche es noch einmal wagt, ihre Sehnsüchte auf den von Patrik Holeček getanzten Mitch, in dem sie Alan Gray zu sehen meint, zu übertragen.

Es spricht für die Tiefe der tänzerischen Interpretation von John Neumeier, dass in seiner Sicht, dieser polnische Macho Stanley Kowalski der Stella viel näher ist, als man glauben mag. Er boxt sich durch, das wird von einem polnischen Muskelprotz nicht anders erwartet. Dabei ist er auf der Flucht vor diesem Klischee und begibt sich dennoch in dessen Verstrickungen. Für Blanche hat er Verachtung, die wächst, obwohl er dennoch eine gewisse Nähe spürt, an der es im Verhältnis zu Blanches Schwester, seiner Frau, völlig fehlt.

Und so kommt es zu jener tänzerisch so erschütternden Szene der brutalen Vergewaltigung Blanches durch Stanley, eben auf jenem armseligen Bett, auf dem dieser Tanz heimatloser Menschen begann. Was hier der Tänzerin und dem Tänzer abverlangt wird, das ist enorm. Da ist der verzweifelte Versuch einer missverstandenen Hingabe in Form totaler Unterwerfung bei Blanche, und der ebenso verzweifelte Trieb in die Brutalität eines auf seine Sexualität reduzierten Menschen wie eben Stanley Kowalski. Und da gibt es weder Peinlichkeiten noch Klischees, Alina Nanu und Paul Irmatov sind - je auf ihre Weise - von so erschreckender wie berührender tänzerischer und darstellerischer Präsenz.

Auch das Ensemble entwickelt eine Kraft, der man sich nicht entziehen kann. Die Tänzer*innen bewegen sich, als risse es ihre Körper auseinander. Als würden sie geschlagen, gepeitscht, gejagt, getrieben, verfolgt. Kein Schutz. Nirgends. Als wollten sie der Gewalt widerstehen, verfallen sie immer wieder in geschmeidige, zärtliche Bewegungsabläufe, die wie Zitate einstiger Ordnungen und Konventionen wirken. Sequenzen der Erinnerung, jäh durchbrochen von denen der Gewalt und der Erniedrigung. Das ist der Tanz auf des Messers Schneide.

Eine bedeutende Rolle spielt dabei die geniale Auswahl der zugespielten Musik: Im ersten Teil, instrumentiert von Rudolf Barschai für das Moskauer Kammerorchester, „Visions fugitives“ op. 22 - also „Flüchtige Erscheinungen“. Dann, wie Klänge des Widerstandes gegen zerstörerische Kräfte, die erste Sinfonie von Alfred Schnittke, die Einspielung der Uraufführung unter Gennady Rozhdestvensky aus der einstmals geschlossenen Stadt Gorki.

Mit dieser außergewöhnlichen, vom Prager Publikum nach anfänglicher Beklommenheit euphorisch gefeierten Aufführung setzt Ballettdirektor Filip Barankiewicz seine thematische Reihe von Balletten nach literarischen Vorlagen fort. Bislang „Der Prozess“ nach Franz Kafka von Mauro Bigonzetti und „Leonce und Lena“ nach Georg Büchner von Christian Spuck. Fortsetzung erwünscht.
 

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