„distant figure Part I: Description (of a description) Part II: 4 etudes by Philip Glass“ von Lucinda Childs & MP3 Dance Project

Lebendige Tanzgeschichte

Lucinda Childs mit „distant figure“ und Anne Teresa De Keersmaekers „Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich” bei ImPulsTanz 2023

Lucinda Childs und Anne Teresa De Keersmaeker sind aus der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes nicht wegzudenken. Dass beide bei der 40. Ausgabe von ImPulsTanz vertreten sind, zeigt auch den hohen Stellenwert des Festivals.

Wien, 19/07/2023

Für „Description (of a description)”, den ersten Teil des Abends „distant figure“, benötigt Lucinda Childs nicht viel: eine Plattform schwebt über der schwarz ausgekleideten Bühne, beleuchtet nur durch ein weißes Rechteck als Hintergrund (Musik, Bühnenbild und Licht: Hans Peter Kuhn). Childs rezitiert einen Text von Susan Sontag, der für sie geschrieben wurde. Sie schildert die Überforderung einer Person, die sieht, wie ein Mann auf der Straße zusammenbricht. Mit wenigen Gesten aber unglaublicher Präsenz lässt sie diese Situation lebendig werden. Gesampelte Textteile, die sich akustisch durch den Theaterraum bewegen, verdeutlichen den Stress, unter dem die Person steht. Im Lauf der ca. 20-minütigen Performance, die die Grenze zwischen Tanz und Theater schmelzen lässt, werden die schwarzen Vorhänge weggezogen und man sieht nur mehr die schwebende Plattform vor einem strahlend weißen Bühnenprospekt.

Auch der zweite Teil des Abends, die Uraufführung „4 etudes by Philip Glass“, ist sehr schlicht inszeniert. Auf der leeren Bühne des Wiener Akademietheaters sind die Rückwand und die Seitenbühne zu sehen. Links hinten steht ein Flügel, an dem Starpianist Alain Franco beeindruckend die Etüden Nr. 3, 5, 9 und 18 von Philip Glass interpretiert. Allerdings hat Childs nur zu zwei Etüden choreografiert. In Etüde Nr. 5 wird die Musik von zwei Tänzerinnen und einem Tänzer in Bewegung umgesetzt. Childs arbeitet mit den von ihr bekannten minimalistischen Mitteln wie Schritten und kleinen Drehungen, setzt Wiederholungen und Kanon gekonnt ein. Zu Etüde Nr. 18 dann ein Duo, das frischer und moderner wirkt – vielleicht auch, weil es nicht so kühl distanziert angelegt ist wie das zuvor gesehene Trio. Die Tänzerin und der Tänzer treten in eine Beziehung zueinander, es kommt zu Berührungen und Hebungen. Die fünf Tänzer*innen des römischen MP3 Dance Project beherrschen Childs Stil perfekt und man hätte gerne noch mehr von ihnen gesehen.

Ein Stück Tanzgeschichte ist auch „Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich”, das Debütstück von Anne Terese De Keersmaeker von 1981/82, das im Rahmen der vor einigen Jahren eingeführten Schiene „ImPulsTanz Classic“ zu sehen war. Seit 1994 ist Keersmaeker regelmäßig bei ImPulsTanz zu Gast, 1998 und 2001 war sie selbst noch in „Fase“ in Wien zu sehen. Die Pflege ihres Repertoires ist Keersmaeker schon lange ein Anliegen und so tanzt nun eine junge, heutige Generation ihre Signaturstücke. Schön ist dabei zu sehen, dass Keersmaeker keine Klone der Uraufführungsbesetzung gesucht hat, sondern mit Laura Bachman und Soa Ratsifandrihana zwei herausragende Tänzerinnen ausgewählt hat, die sich das Werk auf ihre Weise aneignen durften. Der vierteilige Abend zu Musik von Steve Reich ist eine Feier des reinen Tanzes. Schon in ihrem Debütstück arbeitete Keersmaeker sehr konzentriert an schlichten Bewegungen, die sich oftmals wiederholen. Ein zentrales Motiv ist die Phasenverschiebung. Zu sehen sind die ihr eigenen halben Drehungen, Armschwünge aber auch Alltagsgesten. Teilweise wird die Musik sehr genau umgesetzt, dann dient sie wieder nur als Inspiration für Bewegungsabfolgen. Beeindruckend die Kondition der beiden ausgezeichneten Tänzer*innen, für die es viel Applaus gab. Für unsere mittlerweile schnelllebige Zeit ist das Stück auch eine Herausforderung an die Konzentration. Allerdings konnten nicht alle im Publikum damit umgehen, denn in den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Teilen war der Blick aufs Handy für viele unumgänglich.

Paul M. Delavos

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