„The Great Yes, The Great No“ von William Kentridge

Düstere Visionen

Das große Sommertanzfestival ImpulsTanz in Wien startet mit starken Themen

Chris Haring befragt den Medea-Mythos, während Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga sich Gedanken zu den Jahreszeiten machen. Und William Kentridge schickt historische Persönlichkeiten auf einem Dampfer ins Ungewisse.

Wien, 22/07/2024

Was führte dazu, dass Medea diese schreckliche Tat beging? Diese Frage scheint sich der Wiener Choregraf Chris Haring unter anderem gestellt zu haben. In der Uraufführung von „IN MEDEAS RES“ geht es nicht nur um Medea, sondern auch um die Rolle der Frau an sich. Entstanden ist ein Duo, das wenig Zusammenspiel zwischen Hanna Timbrell und Dong Uk Kim zeigt. Vielmehr bekommt man das Gefühl, dass Timbrell als Medea isoliert ihren Alltag lebt, obwohl Kim als Jason doch neben ihr ist. Haring arbeitet – unterstützt von einem großen Team – wie gewohnt mit Live-Videos, kreiert intime Bilder, die vergrößert projiziert werden. Die beiden Tänzer*innen richten immer wieder Kameras und Scheinwerfer aufeinander aus. Genau in diesen Momenten bekommt das Stück allerdings Längen: denn gefühlt dauert das Vorbereiten der nächsten Szene länger als die Szene selbst. Da hilft es nichts, dass Timbrell und Kim in den kurzen tänzerischen Momenten Harings Bewegungssprache perfekt umsetzen können, dass mit Licht und Video auch beeindruckende Momente geschaffen werden. Im Kopf bleibt der kurze Moment, in dem es scheint, als sei Medeas Oberkörper ausgehöhlt, nur die Rippen sind zu sehen. Bei aller Bewunderung für die vielen Ideen wünscht man sich doch, dass die nächste Arbeit wieder tänzerischer wird und vor allem weniger technisch, um der künstlerischen Kreativität wieder mehr Raum zu geben.

Gibt es noch Jahreszeiten?

Wer kennt sie nicht, „Die vier Jahreszeiten“ von Antonio Vivaldi? Die bekannten concerti sind allerdings nur die ersten vier von insgesamt zwölf unter dem Titel „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“. Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga haben den Titel auch ihrer Kreation gegeben, obwohl nur die ersten vier concerti in einer beeindruckenden, sehr klaren Einspielung von Amandine Beyer und ihrem Ensemble Gli Incogniti verwendet wurden. Allerdings wird mit „L’autunno“ begonnen, nachdem lange Zeit in Stille getanzt wurde. Ein gutes Bild dafür, dass sich unsere Welt wohl schon eher am Ende befindet, wenn nicht bald etwas getan wird.

Mit Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crnčević und José Paulo dos Santos stehen vier beeindruckende, diverse Tänzer auf der Bühne. Sie wirken ganz im Moment verloren, wenn sie das bekannte Keersmaekersche Vokabular aus Drehungen, Gehen, Laufen und Springen tanzen. Auflockerung gibt es durch Breaking-Einlagen und rhythmisches Springen, das im Kopf die bekannten Melodien evoziert. Die leere Bühne wird vor allem von Natriumdampflampen beleuchtet, die mit ihrem orangen Licht auch an Wärmelampen erinnern, und Neonröhren, deren kaltes Licht alles zeigt. Wer sich eine Antwort auf die Frage, ob es noch Jahreszeiten gibt, erwartet hat, wird vielleicht enttäuscht gewesen sein. Denn auch dieses Mal dominiert der reine Tanz, in dem die Musik teilweise umgesetzt wird. Aber die verkehrte Anordnung der concerti, ungewohnt klingendes Vogelgezwitscher und Tiergeräusche sowie die vielen stillen Momente zeigen, dass es aktuell nicht wie gewohnt abläuft in unserer Welt.

ImPulsTanz-Intendant Karl Regensburger hat die richtige Entscheidung getroffen, das Stück trotz der Vorwürfe, die im Juni gegen Keersmaeker laut geworden sind und definitiv einer Aufarbeitung bedürfen, zu zeigen. Schließlich ist Keersmaeker seit Jahrzehnten eine fixe Größe im zeitgenössischen Tanzgeschehen und auch bei ImPulsTanz, was sie allerdings nicht der Verantwortung für das Wohlergehen ihren Tänzer*innen entbindet. Warum sie zu den Großen zählt, konnte man bei der mit zweieinhalb Stunden etwas zu lang geratenen Lecture Perfomance „Vocabularium“ sehen, in der Keersmaeker spannende Einblicke in ihr choreografische Oeuvre gab.

Reise ins Ungewisse

William Kentridge setzt in „The Great Yes, The Great No“ jenen Menschen auf der Flucht ein Denkmal, die sich in der (illegalen) Migration eine Lebensverbesserung erhoffen und sich auf Schiffen in eine ungewisse Zukunft befinden. Dazu versammelt er auf einem großen Ozeandampfer unterschiedlichste historische Figuren aus verschiedenen Zeiten. Ihre Motivation auszuwandern, aber auch gerade ihre Wahrnehmung der Realität stimmen nachdenklich. Vor allem in den Momenten, wenn Videos aus der Zeit des Nationalsozialismus und Adolf Hitler (teilweise künstlerisch verfremdet) eingespielt werden. Denn man weiß, dass damals viele die Situation unterschätzt haben und fragt sich, ob wir heute nicht (bald) wieder an einem ähnlichen Punkt im politischen Geschehen Europas angelangt sind. Entstanden ist ein sehr dichtes Stück, das von herausragenden Darsteller*innen, Sänger*innen und Musiker*innen getragen wird. Durch die vielen Videos und die unterschiedlichen Erzählstränge wirkt der Abend mit der Zeit aber leider etwas überladen – weniger wäre vielleicht mehr gewesen.

 

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