„Jakie“ von Sharon Eyal

„Wir sind viele!“

Zum Gastspiel von Nederlands Dans Theater 1 bei den Ludwigshafener Festspielen

Eine eigene, unverwechselbare Tanzsprache zu kreieren, ist die Königsdisziplin der internationalen Choreograf*innen-Riege. Die Kernkompanie von Nederlands Dans Theater, das NDT 1, präsentierte beim Gastspiel anlässlich der Ludwigshafener Festspiele gleich drei Vertreter*innen dieser exklusiven Zunft; mit im Gepäck zwei deutsche Erstaufführungen.

Ludwigshafen, 29/10/2023

Den Auftakt machte allerdings ein anderthalb Jahre altes Stück von Marco Goecke – dem Star-Choreografen, der in der Zwischenzeit durch die „Hundekot-Affäre“ zwar ungeahnte öffentliche Aufmerksamkeit gewann, aber dafür seinen Job als Ballettdirektor des Staatstheaters Hannover und ein Stück weit persönliche Vertrauenswürdigkeit einbüßte. Seine Stücke bleiben aber landauf, landab im Programm – auf eine so spezielle künstlerische Handschrift wollen die Tanzverantwortlichen ganz offensichtlich nicht verzichten. Der Stuttgarter Eric Gauthier, der das Tanzprogramm der Pfalzbau-Festspiele kuratiert hat, will Goecke für seine eigene Kompanie auch weiter beschäftigen. „I love you, ghosts“, eine Originalkreation für das NDT 1, macht diese Entscheidung nachvollziehbar.

Heimliche Erinnerungen

Marco Goecke hat erstmals superschnelle, isolierte Bewegung der Arme, gern gepaart mit Rückenansichten, zum Erkennungsmerkmal gemacht. Sein Stück über die Hausgeister des NDT, inspiriert vom Umzug in ein neues Haus, fragt witzig und melancholisch zugleich nach dem, was heimlich an Erinnerungen mitschwingt. Allerdings agieren hier nicht neckische Kobolde, sondern roboterhaft getriebene, marionettenhafte Wesen, die von fremden Mächten gesteuert scheinen. Am Ende gibt es kein Happy-End im Geisterland, aber schaurig schöne Sehnsucht.

Verwachsen zu einem einzigen Tanzkörper

Den choreografischen Senkrechtstarter Tao Ye erstmals zur Zusammenarbeit mit einer europäischen Kompanie zu verpflichten, ist ein besonderer Erfolg. Der Chinese, der bereits in ganz jungen Jahren seine eigene Truppe (TAO Dance Theatre) gründete, geht konsequent eigene, asiatisch geprägte Wege. Eine seiner Eigenheiten ist eine choreografische Reite, die nur mir Ziffern betitelt ist – für das NDT war die „15“ dran. Die fünfzehn beteiligten Tänzer (alle in weiten schwarzen Hosenröcken, die Männer mit blankem Oberkörper, die Frauen mit hautfarbenen Tops) verwachsen in der Formation eines gleichschenkligen Dreiecks zu einem einzigen Tanzkörper. Den schickt Tao Ye durch ein dreiteiliges Exerzitium der extremen Art, angefeuert durch minimalistisch geprägte elektronische Rhythmen und Live-Klang mit Fallen, Körperklatschen und Unisono-Schreien. Das Publikum wird mitgenommen auf eine Reise extremer Gefühle – und revanchierte sich mit entsprechendem Applaus.

Verschwommene Einheit

Auch die israelische Erfolgschoreografin Sharon Eyal hat die Kunst, ein Ensemble zur organischen Einheit zu formen, zu ihrem Markenzeichen gemacht. Die Ästhetik der hautengen Ganzkörper-Trikots, gepaart mit halbhohen Socken, die das extrem herausfordernde Tanzen auf den Zehenspitzen betonen, kennzeichnet alle ihre Stücke. In der neuen Kreation „Jakie“ hat sie sie wie gewohnt mit ihrem Partner Gai Behar zusammengearbeitet, und der Originalsound wurde im Probenprozess von DJ Ori Lichtik kreiert. In den Musikmix hat auch das gesellschaftskritische Stück „GS 1“ der Einstürzenden Neubauten Eingang gefunden, in dem es am Ende heißt: „Wir sind viele …“. Viele Tänzer*innen agieren tatsächlich zugleich auf der Bühne, insgesamt sechzehn, und sind eine ganze Zeitlang in Dunkelheit und Bühnennebel nur als verschwommene Einheit auszumachen. Aber anders als Tao Ye erlaubt Sharon Eyal den Einzelnen konsequent ein solistisches Ausbrechen aus dem Sog der Truppe, die hier ungewohnt ruhig und mit viel Anklang ans Ballettvokabular agiert.

Auch dieser Programmabschluss verfehlte seine Wirkung nicht; das Festspielpublikum wollte die überragenden Tänzerinnen und Tänzer lange nicht gehen lassen. 

 

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