„Bodies under Influence“ von Fernanda Ortiz

Totalausfall. Und draußen nur Heineken

Einige Anmerkungen zu Fernanda Ortiz’ „Bodies under Influence“ auf Kampnagel Hamburg

Eigentlich war Neues im VR-Segment angekündigt. Also kam der Kritiker und sah: nichts.

Hamburg, 21/11/2023

Als ich 20 Minuten nach Beginn der Tanzvorstellung bereits im Café auf Kampnagel saß und feststellte, dass das große Bier, das da vor mir stand, leider nur ein Heineken statt eines echten Bieres war, schoss mir unwillkürlich ein „Auch das noch!“ durch den Kopf. Unwillkürlich fühlte ich mich wie der Theaterkritiker Alfred Kerr, dem das Bonmot der kürzesten Theaterkritik aller Zeiten zugeschrieben wird: „Ich kam aus dem Theater. Es regnete. Auch das noch.“

Kerr saß immerhin zunächst im Theater, der Vorhang hatte sich gehoben, und dann erst wurde das Bühnengeschehen unaushaltbar. Soweit kamen wir bei bei Fernanda Ortiz’ „Bodies under Influence“, das an diesem Wochenende auf Kampnagel in der intimen k6 seine Premiere hatte, gar nicht. Der digitale Vorhang blieb einfach unten, zumindest für einige der Gäste, getanzt wurde trotzdem.

Tanz und digitale Technik

Was war passiert? Fernanda Ortiz’ „Bodies under Influence“ auf Kampnagel war angekündigt als „Virtual Reality-Choreografie mit Live-Tanz, die den Erfahrungsraum zwischen der echten und der virtuellen Welt choreografisch erkundet.“ Fein, fein, ein weiteres Kapitel von Tanz und Technik, diesmal mit sündhaft teuren VR-Brillen für das Publikum, die sich im Stuhlkreis um den Tänzer Santiago Mariño versammelten. Er war mit Motion-Sensors ausgestattet, die seine Bewegungen auf einen virtuellen Avatar in einen virtuellen 3D-Raum übertragen sollten, was man über die Virtual Reality-Brillen immersiv erleben können sollte. Solche VR-Brillen kommen ja immer mal wieder im Theater und bei Tanz zum Einsatz kommen, auch wenn bisher noch nie so richtig überzeugend. Aber Ästhetik mit neuen Medien ist ein Marathon und kein Sprint, hier entwickelt sich etwas, was auch der Kritiker wohlwollend und mit Interesse zu Kenntnis nimmt.

Ein Haus der Professionalität

Vor dem Start gab es eine kurze Einführung. Eine Assistentin erklärt locker flockig die Technik: „Wenn Sie sich in einem Büro wiederfinden sollten oder der Avatar nur regungslos auf dem Boden liegt, bitte melden. Ein Techniker fixt dann die Brille.“ Klingt gut. 30 Besucher*innen waren versammelt, das Stück war bereits am Freitag gelaufen, also sollte diese Samstag-Vorstellung doch gut funktionieren. Kampnagel ist ja immerhin das Flagschiff der freien Szene, eines der wichtigsten internationalen Produktionszentren der Republik und für seine Professionalität bekannt und geschätzt.

Was folgte, erinnerte allerdings eher an eine Übungsstunde des Seminars „Erste Schritte mit Virtual Reality“ der Volkshochschule Untertupfing. Zwar hatte Ortiz ein riesiges Team von Designer*innen, Musiker*innen, Dramaturg*innen etc. beschäftigt, aber bei sechs von 30 Zuschauenden flogen die Brillen bereits zum Anfang der Performance aus dem System oder loggten sich gar nicht erst ein. Auch ich sah nur das Büro im Wüstenstreifen. Brav hoben die Betroffenen die Hand, in Erwartung der angekündigten schnellen Hilfe. Nach 10 Minuten dann (die Performance war mit einer Dauer von 50 Minuten angekündigt) hatte der Techniker in Schwarz mit vielen virtuellen Handgriffen, die erste Brille wieder an den Start gebracht. Die anderen schauten nach wie vor Santiago Mariño beim Tanzen mit Motion Sensors zu, ohne auch nur eine Idee zu haben, wie das wohl im digitalen Raum aussehen könnte. Bei dem Tempo wären nach 60 Minuten alle online gewesen – also zehn Minuten nach Ende. Wobei das auch nur theoretisch stimmt, denn Personen, die dann wieder online gegangen waren, berichten von einem Erlebnis „glitchy as hell“, da sich offenbar das VR-Video nicht synchronisierte, sondern lediglich von Anfang an irgendwas abspielte. Und draußen nur Heineken.

Ein klarer Auffahrunfall

Hier stellt sich dann schon die Frage nach der Professionalität. Offenbar waren sowohl Ortiz als auch Kampnagel mit dem gewählten technischen Setting maximal überfordert. Doch wenn man es nicht schafft, den digitalen Vorhang zu lüften, dann bleibt der Lappen vielleicht besser unten, und man arbeitet so lange, bis wenigstens nur noch kleine Fehler auftreten, die vor Ort schnell kompensierbar sind. Nicht alle Kinderschuhe eignen sich zum Marathon, manche sollten die Probebühne bessrer nicht verlassen. Denn sonst ist das Ergebnis ein peinliches Armutszeugnis: In diesem Fall für Ortiz und Kampnagel. Große ästhetische Visionen zerplatzen lautlos an der Realität der Technik und vergraulen selbst wohlgesinnte Besucher*innen. Gerade bei solchen innovativen Settings muss die Frage der halbwegs reibungslosen technischen Umsetzbarkeit mindestens so wichtig sein wie die künstlerischen Inhalte – schon aus Respekt vor den Besucher*innen, die sich diesem Neuen aussetzen. Sicherlich, kleine Stolpersteine und Kinderkrankheiten gehören dazu, aber das hier war ein Auffahrunfall mit Totalschaden, allerdings ohne Voyeure, denn zu sehen gab es ja nichts.

Und wenn Kampnagel das nicht auf die Reihe kriegt, dann sollten sie wenigstens für vernünftiges Bier in der Gastro sorgen. Eine Enttäuschung pro Abend ist schließlich genug.

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