„The Romeo“ von Trajal Harrell, Tanz: Stephen Thompson, Maria Ferreira Silva, Songhay Toldon, Thibault Lac, Perle Palombe, Frances Chiaverini 

So merkwürdig! So schön!

Trajal Harrell und sein Ensemble bringen am Zürcher Schauspielhaus „The Romeo“ zur Uraufführung

Ein seltsames Tanz-Arrangement mit traumverlorenen Szenen, angedeuteten Ritualen und wiederkehrenden Modeschauen

Zürich, 03/04/2023

Begeisterter Applaus nach der Uraufführung von „The Romeo“ am 1.April 2023 in Zürich: Trajal Harrell und seine Schauspielhaus Zürich Dance Company haben im Lauf von knapp vier Jahren eine Fan-Gruppe bekommen, was nicht unbedingt zu erwarten war. Doch schon bald droht Harrells Company das Aus, weil ihren Vorgesetzten, den beiden Schauspielhaus-Chefs Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, der Vertrag über die Spielzeit 2023/24 hinaus nicht verlängert wurde. Aus wirtschaftlichen und künstlerischen Gründen – zu viel Wokeness, zu wenig Tradition.

„The Romeo“? Bei diesem Namen denkt man zuallererst an Shakespeares Drama „Romeo und Julia“ – an die zwei jugendlichen Adeligen aus verfeindeten Familien in Verona, die in den Tod getrieben werden. Harrell weitet das Thema von Anfang an aus: Romeo stirbt nicht und tanzt sich frei für ein neues Leben. Und wie er machen es auch Andere – „Menschen aller Herkünfte, Geschlechter und Generationen, aller Temperamente und Stimmungen, wenn sie ihre Tragödien hinter sich gelassen haben und nur noch tanzen“, wie es im Programm heißt.

Man ist dann nicht besonders erstaunt, im neuen anderthalbstündigen Tanzwerk keinen Romeo identifizieren zu können, geschweige denn ihn zusammen mit einer Julia. Schließlich fehlte schon in Harrells letzter Choreografie, „Das Haus der Bernarda Alba“, jeder Bezug zu Lorcas gleichnamigem Drama mit den fünf mitspielenden Frauen.

„The Romeo“ ohne Romeo? Diesen Gedanken lässt man bald fallen, nachdem das Tanzen begonnen hat. So schön und traumverloren bewegen sich die zwölf Tänzerinnen und Tänzer, großgewachsene und gedrungene, junge und ältere. Sie kommen hinter einem eisernen Gitter mit Rundbogen-Eingang hervor, bewegen sich weich und fast lautlos zur Musik, strahlen Lebensfreude aus. Glück auch in düsteren Zeiten.

Manchmal fühlt man sich an die späten Tanztheater-Stücke von Pina Bausch erinnert, wo tänzerische Poesie immer öfter aufblühte, etwa in „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ oder „Vollmond“. Oder an Bauschs Aufruf im Dokumentarfilm von 2011: „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren.“

Der Tanzstil? Zeitgenössisches Bewegungsmaterial, fremdes und eigenes, Anleihen bei der Postmoderne, Elemente aus Ballroom oder höfischen Tänzen. Bedeutungsschwangeres und Komisches. Wie schon in früheren Harrell-Stücken sieht man sich gelegentlich in eine Modeschau versetzt. Dann trippeln und posieren die Tanzenden wie Models auf dem Catwalk, mit seltsam verdrehten Hüften, Beinen und Füssen.

Sie tanzen meist barfuß und wechseln dauernd ihre Kostüme: Glänzende drapierte Stoffe, Röcke mit Blumenmustern, Rüschen und Fransen, Zirkusuniformen, Ballkleider. Tajal Harrell hat die Garderobestücke bei allerlei Reisen und Anlässen gesammelt und für sein Ensemble neu kombiniert.

Während der Aufführung sitzt der Choreograf auf der linken oder rechten Seite der Tanzenden, dirigiert ein bisschen mit den Händen. Mehrmals steht er auf und legt ein Solo auf die Bühne, gekleidet in durchsichtigen Stoff. Ein Frauenkleid, wie es auch andere der mitwirkenden Männer diesen Abend immer wieder tragen. Eben typische Tänzer*innen. Das Gendern spielt zurzeit im Zürcher Schauspielhaus eine wichtige Rolle. Auch die Dramaturgin Miriam Ibrahim, die im Programmheft einen aufschlussreichen Artikel zur Geschichte des Tanzes und „Zu dieser Inszenierung“ geschrieben hat, verwendet einmal „mensch“ statt „man“.

Zurück zu „The Romeo“. Nach den langsamen, leichten, weichen Eingangsszenen tanzt das Ensemble etwas härter und schneller. Rituale werden angedeutet; man kann an Erntedankfeste oder Regenbeschwörungen denken. Zwischendurch sind die Mitwirkenden matt und krank, liegen versehrt auf dem Boden – um sich dann wieder hoch zu rappeln. Alles sehr interessant und malerisch anzuschauen. Und eben auch unerwartet schön.

So wie Harrell mit Nadja Sofia Eller gemeinsam fürs Bühnenbild zeichnet, tut er es zusammen mit Asma Maroof für den Soundtrack. Der reiht Ausschnitte aus jüngeren und älteren Kompositionen aneinander, von „Another Brick in the Wall“ von Pink Floyd bis zu Erik Saties „Gnossiennes“-Klavierstücken. Dazwischen hört man Naturgeräusche wie Regen und Sturm.

Wenn Ende der Spielzeit 2023/24 die Intendanz Steman/von Blomberg ausläuft, wird wohl auch das Engagement des Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble zu Ende gehen und Harrells kleine Company wieder auf die freie Bahn geschickt. Zuvor stehen der Company aber noch prominente Gastspiele in Amsterdam, Berlin, Paris, Genf, Brügge oder Singapur bevor. Denn „The Romeo“ ist in Koproduktion mit verschiedenen Bühnen und Festivals entstanden. Höhepunkt wird der Auftritt im Juli beim Festival d’Avignon in der Cour d’Honneur sein.

 

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