„Barbe-Bleue“ von Pina Bausch, Tanz: Lilian Di Piazza, Antoine Kirscher, Fabien Révillion, Adèle Belem, Laure-Adélaïde Boucaud, Daniel Stokes, Alycia Hiddinga, Axel Ibot

Beziehungsphasen

„Barbe-Bleue“ an der Pariser Oper

Zum 15. Todestag von Pina Bausch nimmt das Pariser Opernballett ihren „Blaubart“ neu ins Repertoire auf. Eine Erinnerungsarbeit an Lieben und Leben in sieben Türen.

Paris, 30/06/2024

Es ist ein Stück aus dem Herbst einer Beziehung, vielleicht des Lebens. Die Möbel sind ausgeräumt, der Ofen hat eine tapetenlose Fläche hinterlassen, welkes Laub ist über den Boden geweht. Der Mann hört hier wie Becketts Krapp noch einmal die Bänder seines Lebens ab, vor- und zurückspulend, es ist eine Aufnahme von Bartóks „Blaubarts Burg“, jener Oper über Selbsterkenntnis hinter sieben Türen, aufgeschlossen von der Liebe. Die ist in Gestalt seiner Lebensbeziehung Judith präsent, vielleicht ist es aber nur ein Traum. Noch einmal durchleben sie die Phasen ihres gemeinsamen Weges.

Rolf Borziks poetisch karger Raum wird durch Pina Bauschs Choreografie sofort ein Resonanzraum psychischer Konstellationen. Ist es heute üblich, Bartóks Blaubart als Psychogramm toxischer Männlichkeit zu lesen, so erstaunt die große Frau des deutschen Tanztheaters in ihrem 1977 für die Wuppertaler Compagnie entstandenen Blaubart-Stück mit einer ehrlichen Analyse beider psychologischer Dispositionen. Tür um Tür werden da Hingabe, Ausnutzung, Lust und Demütigung, Aggression und Fürsorge in starke Situationen gefasst. Es sind Gefühle und Triebe, die von Kindheit an zum menschlichen Wesen gehören und in der Vertrautheit einer Beziehung auch offen erkundet werden. Die Frauen und Männer der Compagnie rahmen und vervielfältigen diese Aspekte.

Mut zur emotionalen Entäußerung

Für das hervorragend klassisch trainierte Ensemble der Pariser Oper bedeutet diese vierte eigene Einstudierung eines Pina-Bausch-Stücks Mut zur direkten emotionalen Entäußerung, Verzicht auf tradierte Formen und eine eher pure Körperlichkeit, die sich auch mit Stöhnen und Schreien Bahn bricht. Es ist schön zu sehen, wie die Compagnie das mit vollem Einsatz, spürbarer Lust und manchmal Humor umsetzt, denn Pina Bauschs Stücke wollen genau diese ganze Bandbreite des Menschlichen abbilden.

Müssen sie anfangs noch in formalen Menschengirlanden Hand in Hand die Bühne entern, so fordert der Fortschritt der Beziehung, bald alle Befangenheit fahren zu lassen, wenn sie sich von rechts nach links gegen die Wände schmeißen, die Hosen runterlassen oder in Bademänteln Fangen spielen. Es darf etwas von Schnaken an den Wänden haben, wenn sich die Frauen halbhoch die Mauern hochziehen und dort auf unsichtbaren Tritten verharren. Die Männer posen wie Bodybuilder, da haben die Jungs sichtlich Spaß und vergessen nicht die kleine Geste über die Augenbrauen, die sie unwiderstehlich macht.

Takeru Coste ist als Barbe-Bleue mit langen Haaren und kraftvoll-unkonventionellen Bewegungen sehr überzeugend als Künstlerfigur, wirkt wie ein existentialistischer Student, alterslos, der hier offenbar Bilanz zieht. Und Léonore Baulac, immerhin eine der Étoiles des Ensembles, passt mit ihrer grazilen Erscheinung als Judith wie eine ersehnte Fee in diese Beziehung. Sie hat trotzdem die Stärke, den mit dem Rücken über ihr liegenden Mann über die halbe Bühne zu ziehen. Mal überrennt sie ihn, mal er sie, Beziehungsarbeit bedeutet auch Kampf und Verletzungen.

Rückblick mit Zwang

Sie muss ertragen, wie er sich auf sie setzt, mal unablässig schreien, mal weinen, bekommt alle möglichen alten Kleider übereinandergezwängt, die der anderen Frauen oder besser: ihrer eigenen früheren Lebensphasen. Oder auch nur der Rollenbilder, die sie ausübte, weil sie es wollte oder sollte oder beides. Hier jedenfalls zieht Barbe-Bleue sie ihr über, es waren Anforderungen, die sie einst lebte, vielleicht jetzt erst in diesem komprimierten Rückblick als Zwang empfindet.

Wobei auch Barbe-Bleue in diesen Szenen einer Beziehung zerlegt wird, am Ende bloß noch vor einer Puppe den Macker macht und Muskeln spielen lässt, Judith beeindruckt das schon lange nicht mehr. In einem letzten Kuss sinkt sie nieder, man kann das Folgende wohl als Konfrontation mit ihrem Tod deuten, das Tragen und Schütteln der Frauen, das Zusammenbrechen der Männer über ihnen. Barbe-Bleue robbt nun mit Judith auf sich über den Boden. Zuletzt klatscht er mit der Hand in immer kürzeren Abständen Szenenwechsel durch die Gruppe herbei, die aber nur noch Wiederaufnahmen der schon erlebten sind. Kissenschlacht, Body-Posing, Frauen, die vom Stuhl fallen oder die Wände hochgehen: der Versuch, Erinnerungen festzuhalten in einem schon leeren Lebens-Raum, den auch er bald verlassen muss.

Das ist von starker, packender Emotion, ein Stück, das die Pariser Compagnie gerade vor dem Hintergrund ihrer großen Tradition sehr gut tanzen kann, erzählt es doch auch von großen Momenten und wie man sich manchmal erinnernd befreien kann, um wieder das Leben zu spüren.

 

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