„Wesenwelt“ von Kristin Ryg Helgebostad

Vereinzel(l)ung unter Rahmen-Bedingungen

Dresden Frankfurt Dance Company mit „Welcome“ im Festspielhaus Hellerau

Zwei konträre Konzepte, die im Kern das gleiche wollen: Kristin Ryg Helgebostad und Sergiu Matis haben als Gastchoreograf*innen ein feines Gespür für die Eigenheiten des Ensembles.

Dresden Hellerau, 18/05/2024

Es ist eine Art organischer Einheit, die da am Boden liegt, amorph, zusammengesetzt aus, naja, einzelnen Wesen. Mehr oder minder. Nur halt nicht aus Einzelwesen. In Kristin Ryg Helgebostads „Wesenwelt“ ist die Welt ein Wesen. Oder umgekehrt. Die Tänzer*innen bewegen einen Pulk, eine Masse, in der jede*r aufgeht, ohne aufzuscheinen. Fast geräuschlos, ein verhaltener, einzelner, klarer Glockenklang. In schalem Licht beginnt diese Masse leise, sanft zu summen. Kontemplativ, meditativ. So bleibt es lange Zeit. Fast verträumt. Was sich da kollektiv einschwingt, über den Boden robbt, sind keine Menschen. Bis Samuel Young-Wright im Wortsinn aus der unpersönlichen Masse schält. Als Tänzer überragt er ohnehin alle anderen im Ensemble um gut einen ganzen Kopf. Mit einer Lichterkette um den Hals kommt ihm als Einzigem eine Art Sonderstellung zu; fast wie ein Heiland umkreisen ihn die Bestandteile des Ganzen. 

Leises Zischen, ein Klappern, Geräusche, die in ihrer Rhythmik fast an Sprache erinnern. Fast ein Lachen, fast so etwas wie Gesang. Wie eine Spieluhr bewegen sich die Dinge immer weiter, ganz ohne eigene Energie. 

Vielleicht ist es das merkwürdig glitzernde Einzelwesen, das einen Prozess der Auflösung, der Vereinzelung oder Verein-Zellung bewirkt. Die Bestandteile des Pulks lösen sich in den Raum hinein. Lauter Spielzeug. Doch bevor das alles irgendwo im Sand verebben kann, kommt es zu einem dramaturgischen Bruch. Die Tänzer*innen tauchen in billigen blonden und schwarzen Langhaarperücken auf, teils mit langen, knochigen Fingern an überdimensionierten Händen, eine Tänzerin trägt Bärentatzen. Laut gröhlen sie „When I come undone, I’ll be singing this song“ und „There’s a hole in my pocket, there’s a hole in my soul“. Aber warum? Diese fast dystopisch anmutende Kakophonie, dieses brüllende Durcheinander zeigt auch nur, dass das, was wir als Sprache (Gesang) kennen, auch nicht unbedingt weiterhilft. Das findet zwar ein wieder stilles, sanftes Ende, aber ein Zurück zum Anfang bedeutet das nicht. 

Kollektivität im Posthumanismus

Wo die Kollektivität Helgebostads zunächst in ruhiger Harmonie aufgeht, ist das im Fall von Matis‘ „Warpscapes“ nicht denkbar. Sein assoziationsreicher Titel zwischen „war“ und „landscapes“ skizziert im Wortsinn ganz energiegeladen Landschaften, die als Repräsentanten der Natur als solche stehen. Einfache lange dünne Latten schwingen wie Vogelflügel, „verpixelte“ Moves in befremdlich kaltem Licht sind nicht menschlich. Auch hier: ein Kollektiv, das zwar komplexer wirkt, aber nur in der Gesamtheit zu verstehen ist, eine Sinneinheit, deren Einzelteile nicht für sich stehen. 

Die Geräusche von Fröschen und Vögeln können so laut sein, dass sie bedrohlich wirken. Der „war“ aus dem Titel ist der „war on nature“ den die Menschheit laut UN führt, wie Matis im Gespräch verrät. Beide, Helgebostad und Matis, greifen ein Konzept auf, für das der Dramaturg der Company, Philipp Scholtysik, den Begriff Posthumanismus wählt. Auffällig erscheint dabei, wundersamerweise, das Ausbleiben sprachlicher, also menschlicher Äußerungen. Barocke Musik mit Spinett schwillt fast bis zu orgelartigem Klang an, bis die leeren Bilderrahmen für die Landschaften immer weiter in den Hintergrund geräumt werden. Ein transzendentaler Zustand lässt plötzlich alles los, überlässt die Natur sich selbst. Und es zeigt sich: Natur ist weder schlecht noch gut. Sie ist, was sie ist. Aber sie kann sehr wohl wütend sein auf den Menschen. Und das ist, wie sich zum Schlussapplaus im Festspielhaus Hellerau gezeigt hat, auch für die Tänzer*innen eine höchst emotionale Erfahrung.

 

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