„Cho Cho San“ von Nene Okada, Tanz: Nene Okada

„Cho Cho San“ von Nene Okada, Tanz: Nene Okada

Madame Butterfly als Solo-Melodram

Japanisch-italienisches Tanztheater gastiert auf Theaterschiff Heilbronn

Dass ein opulentes Bühnenwerk verdichtet zum solistischen Melodram auch auf kleinstem Raum zur Geltung kommen kann, dafür sprach der anhaltende Applaus für „Cho Cho San“!

Heilbronn, 15/05/2024

Reicher Amerikaner heiratet Japanerin aus verarmtem Adel. Ort der Handlung ist die Hafenstadt Nagasaki um 1900. Puccinis Oper „Madame Butterfly“ beginnt mit einem Skandal: Als die Hochzeitsgäste erfahren, dass die junge Braut zum Christentum konvertierte, ist ihre japanische Verwandtschaft – allen voran ihr Onkel, ein buddhistischer Priester – entsetzt. Die Gäste verlassen das Fest. 

Den Stoff der dreistündigen Tragödie hat die japanische Tänzerin und Choreografin Nene Okada gemeinsam mit dem Musiker und Komponisten Marco Girardin zu einer knapp 60-minütigen Performance komprimiert. „Cho Cho San“, so der Titel, gastierte an zwei Abenden mit durchschlagendem Erfolg auf dem Podium des Theaterschiffs. Dass ein opulentes Bühnenwerk verdichtet zum solistischen Melodram auch auf kleinstem Raum (ca. 20 m2) zur Geltung kommen kann, dafür sprachen der anhaltende Applaus und das große Interesse an der Diskussion mit dem Künstlerduo. 

Bangen und Hoffen

Eine Rückenfigur im schwarz-weiß gemusterten Kimono hinter rotem Papierschirm. Okada in der Rolle der Cho Cho San wartet, lauscht dem Meeresrauschen. So beginnt das Stück, das mit sparsamen Mitteln die Ausgangssituation skizziert. „Wo bist Du Geliebter? Wann löst du dein Versprechen ein?“ Der Geliebte wollte zurückkehren, sobald die Rotkehlchen nisten: „Bauen die Rotkehlchen ihre Nester in Amerika später?“, eine Frage zwischen Bangen und Hoffen, die naiv scheint, zugleich aber die Verbundenheit mit der Natur und die Sehnsucht nach familiärer Nestwärme andeutet. 

Ihr Blick möchte übers Meer schweifen, wird aber vom Zivilisationsmüll aufgehalten, der an den Strand gespült wurde. Er schweift weiter, sucht am Horizont nach dem Schiff, das die Rückkehr des Geliebten ankündigt. Vergeblich. Cho Cho San dreht sich, während das Licht durch den Schirm fällt überzieht ein Hauch Rosa ihren blassen Teint. Wieder blüht Hoffnung im hübschen Gesicht auf.

Energetischer Taumel

War die Ich-Erzählerin anfänglich noch gefasst, was sich in der formalen Strenge des traditionellen japanischen Buyō-Tanzes sowie den vielen präzise gefalteten Schiffchen und noch mehr Origami-Blüten ausdrückt, gewinnt nach und nach die Verzweiflung Oberhand. Vom Kimono (Symbol fernöstlicher Kultur), dessen Ärmel eben noch zu beflügeln schienen, befreit sie sich in einer schwungvollen Drehung und wirft ihn über einen Stuhl (Symbol der westlichen Kultur). Inspiriert vom zeitgenössischen Tanz lösen sich kontrollierte Gesten in einem energetischen Taumel auf. 

Mehrdeutig die Farbsymbolik: Unter dem Kimono ist Okada weiß gekleidet. Die Farbe Weiß, die in der westlichen Kultur eine Lichtgestalt repräsentiert, ist im Buddhismus mit dem Tod assoziiert. Ganz in Schwarz hingegen ist die gesamte Bühne, samt Musiker. Girardin zaubert auf verschiedenen Flöten zum eingespielten Sound aus Naturgeräuschen das Zwitschern der Rotkehlchen, er simuliert den Wind und verhauchende Bambusflötenklängen. Schließlich setzt sich der Musiker ans Klavier, beendet zum anschwellenden elektro-akustischen Wummern das Stück mit minimalistischer Improvisation auf den Tasten. 

Je weiter die Desillusionierung der Protagonistin voranschreitet, desto fragmentarischer das Bewegungsvokabular. Schließlich der Rückzug in ihre Muttersprache, eine gellende Anklage, emotional überdeutlich bleibt dem Publikum der Sinn der japanischen Worte verborgen – die Verständnislosigkeit der Protagonistin überträgt sich dabei kongenial auf die Zuschauer*innen. Als der Geliebte mit seiner amerikanischen Ehefrau erscheint, um das gemeinsame Kind zu holen, ist der Gipfel der persönlichen Katastrophe erreicht: Im Kind sollen sich die kulturellen Gegensätze vereinen: „Dein Geschäftssinn und meine Schönheit, deine Rücksichtslosigkeit und meine Zärtlichkeit…“ 

Doppelter Erkenntniswert

Die Original-Version der Madame Butterfly, verfasst von John Luther Long (1861-1927), verdankt sich Longs in Nagasaki lebenden Schwester. Dort leitete ihr Mann eine Knabenschule und leistete fünf Jahre Missionsarbeit. Long veröffentlichte die Kurzgeschichte „Madame Butterfly“ 1898 im New Yorker Century Illustrated Magazine. Es wurde sein größter literarischer Erfolg. Der Bühnenautor und Regisseur David Belasco (1853–1931) sowie der Komponist Giacomo Puccini (1858–1924) und seine Librettisten Giuseppe Giacosa (1847–1906) und Luigi Illica (1857–1919) adaptierten Longs Novelle. Auf diese Erzählung beziehen sich auch Okada und Girardin.

Nene Okada und Marco Girardin haben sich an der Folkwang Uni Essen kennengelernt. Eine Japanerin und ein Italiener? Was lag näher als sich Puccinis Madama Butterfly vorzunehmen? „Die Idee zur Per­formance ‚Cho Cho San‘ kam jedoch von Stijn Reinhold, Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus“, erläutert Girardin. Dort wurde das Melodram im September 2023 uraufgeführt. Die Hauptperson wird zur Ich-Erzählerin, nach 125 Jahren weißer, männlicher Narration ein entscheidender Kunstgriff mit doppeltem Erkenntniswert: Die japanische Erzählperspektive verdeutlicht den Clash of Civilizations, die weibliche das Dilemma einer krass asymmetrischen Beziehung. „Madame“ ist keine erwachsene Frau, sondern ein 15-jähriger Teenager, der vom Immobilienmakler und Heiratsvermittler (in Personalunion) zum seelenlosen Objekt degradiert, und wie das Mobiliar des Anwesens an den Amerikaner verscherbelt wird. 

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