Ritual des neuen Mannes
„Lemniskata” von Lukas Avedaño feiert auf Kampnagel Europapremiere
Man sollte keine empfindlichen Atemwege haben, wenn man dieses Stück anschaut – schon beim Betreten der großräumigen K6 empfängt die Zuschauer*innen ein dichter Bühnennebel, aromatisiert mit süßlichen Düften (für das es ein „Duftdesign“ gibt, komponiert von Paloma Espinoza). Das verträgt nicht jede Kehle, und da der Nebel die gesamten 70 Minuten über immer wieder nachverdichtet wird, gibt es so manchen hartnäckigen Hustenanfall … Vorher jedoch muss man sich erst einmal zu seinem Sitzplatz vortasten, ziemlich duster ist’s im Raum, die Bühne komplett in Schwarz getaucht.
Und dann passiert erst einmal gar nichts. Man sitzt im Dunklen und lauscht sphärischen elektronischen Klängen (Musik und Sounddesign: Andrés Abarzúa). Nach geraumer Zeit öffnet sich auf der Bühne ein kleiner, waagerechter Sehschlitz, hinter dem ebenfalls der Nebel wallt. Hier ist eindeutig im Vorteil, wer weiter oben sitzt – der Blick auf die Bühne ist dort besser als unten in den ersten Reihen. Aber viel zu sehen ist auch von oben noch nicht, nur langsam schälen sich menschliche Körper aus dem orangefarbenen Dunst. Sie bewegen sich, in duftige weiße Gewänder gehüllt (Kostüme: SISA), mit fließenden Bewegungen von links nach rechts, als würden sie schweben, der Erdenschwere enthoben – eine Séance von Geisterwesen. Wundersam entrückt ist das alles, und es scheint, als gewähre einem eine himmlische Dimension über diesen Sehschlitz einen kostbaren Einblick in ein tiefes Geheimnis.
Immer wieder von Neuem bewegen sich die Wesen über die Bühne, wogend, gleitend, kreiselnd, wie von einem sanften Windhauch bewegt, ihm sich immer wieder von Neuem überlassend, sich hingebend, anschmiegend. Währenddessen wechselt im Hintergrund fast unmerklich das Licht: von Orange auf Rot, auf Blau und wieder zurück zu Orange. Auch der Sehschlitz wechselt die Breite, mal verkleinert er sich, mal vergrößert er sich, es ist wie ein lautloses Atmen, von Geisterhand gesteuert.
Nach etwa 50 Minuten werden die Klänge lauter und aggressiver, und die Sicht auf die Bühne wird größer und klarer – der Nebel lichtet sich etwas, und ein kräftiger Männerkörper beherrscht die weiterhin nur teilweise einzusehende Bühne. Das Bewegungsmuster bleibt fließend, nichts ist da abgehackt, alles gleitet ineinander. Schon bald kommen ihm die anderen zu Hilfe, um zusammen zu einer Einheit zu verschmelzen und – sich im Gleichklang bewegend – schließlich im Nebel zu verschwinden, während der Sehschlitz sich schließt.
Es hat etwas Meditatives, Magisches, dieses neue Stück von José Vidal, der schon 2018 mit seinem „Rito de Primavera“ (tanznetz vom 20. Februar 2018) und 2019 mit „Emergenz“ (tanznetz vom 8. Juni 2019) das Hamburger Publikum verzauberte. Das spanische Wort „Nube“ heißt übersetzt „Wolke“. Und so kommt es einem auch vor: Als wären die 14 Tänzer*innen flüchtig wie der Stoff, aus dem die Wolken sind, nicht wirklich fassbar, von einem Augenblick zum anderen die Gestalt wechselnd, erscheinend, und wieder verschwindend. Sie schweben vorüber, immer im Fluss, nie bleibend.
NUBE, das ist auch „ein Symbol für Kontemplation und Bewegung“, wie es im Programmzettel heißt. Für „eine Struktur, die wir nicht fassen können und die eine symbolische und sensible Reflexion unserer Gefühle und Wünsche ist“. Und NUBE steht ebenso, so heißt es dort weiter, für „Wahrheiten, die uns der Himmel lehrt: die ewige Verwandlung von Formen und Farben zu betrachten, der Fantasie freien Lauf zu lassen, die Vorstellung von Zeit und Raum zu verlieren. Die Vergänglichkeit der gesamten Schöpfung, die wunderbare und schwindelerregende Gewissheit, dass wir auf der Durchreise sind, dass Leben und Tod zwei Teile ein und derselben Reise sind.“ NUBE sei „eine Einladung, unseren Puls zu senken, unsere Sinne zu schärfen und uns durch Bewegung mit dem Spirituellen unserer Essenz zu verbinden.“
Besser kann man die Gefühle nicht auf einen Nenner bringen, die dieses Stück und diese fabelhaften Tänzer*innen beim Zuschauen hinterlassen. Man möchte das alles gleich noch einmal sehen, so wohltuend erscheint es in Anbetracht der Hektik, der Polarisierung und auch der Aggressivität, die unsere Zeit heute dominiert.
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