„Nijinski“ von Marco Goecke, Tanz: Yannick Bittencourt (Freund Isajef), Jan Casier (Nijinski)

Tanz des Wahnsinns

Marco Goeckes Zürcher Fassung von „Nijinski“ als Wiederaufnahme am Opernhaus Zürich

Aus dem abendfüllenden Ballett aus dem Jahr 2019, damals noch als work in progress bezeichnet, ist ein kompaktes, intensives und zu Recht – schon damals – umjubeltes Stück geworden.

Zürich, 16/06/2024

Vaclav Nijinkis Leben, das große Kunst und Tragik vereint, lässt sich laut einer Biografie kurz zusammenfassen in 10 Jahre wachsen, 10 Jahre lernen, 10 Jahre tanzen und 30 Jahre Finsternis. Der legendäre Tänzer und Choreograf wurde schon zu Lebzeiten als Genie und Gott gefeiert und fasziniert bis heute. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere kam der jähe Absturz: Die Krankheit Schizophrenie wurde bei ihm, dem damals erst 29-Jährigen, 1919 in der (damaligen) Zürcher Nervenheilanstalt Burghölzli diagnostiziert.

Den Tanz sprechen lassen

Goecke zeichnet das Bild eines jungen, aufstrebenden Tänzers aus St. Petersburg, der von Sergej Djiaghilew zu den Ballets Russes geholt wurde und zehn Jahre das Publikum mit seinen Sprüngen und seinen gewagten Choreografien bezauberte, auf dem Weg zu seinem Absturz. Das Stück ist nicht chronologisch aufgebaut und inhaltlich wie biografisch schwer zu verfolgen. Personen und Lebensepisoden, Emotionen und Beziehungsgeflechte vermengen sich. Die Tänzerinnen und Tänzer, alle in schwarzen Hosen mit hellem Oberteil, die Männer meist mit nacktem Oberkörper, tanzen vor schwarzem Hintergrund auf einer beleuchten Unterfläche, einer Lichtplatte ähnlich.

Goeckes Bewegungsvokabular ist außergewöhnlich und auch gewöhnungsbedürftig. Es reduziert sich zumeist auf die Bewegungen des Oberkörpers, auf Arme, Kopf und Hände. Ein Tanz, der einengt, einem Gefängnis gleicht, aus dem man ausbrechen möchte. Der Tanz als Befreiungsversuch aus einem Körper, aus dem Wahnsinn? Die Reduktion auf ein Maximum bleibt die 85 Minuten des Stückes durchgängig und lässt einzig und allein den Tanz sprechen. Ein Tanz des Wahnsinns.

Unscheinbare Frauenrollen

Neben Nijinksi treten einige der wichtigsten Personen in seinem Leben auf: Sergej Djiaghilew als der mächtige Impresario der Ballets Russes, Förderer und fordernder Liebhaber von Nijinksi, in Anzug mit Pelzkragen und Schnurrbar gut erkennbar, und Isajef, Nijinskis Freund und Geliebter. Die Frauenfiguren sind dagegen auffallend unauffällig: neben Terpsichore, der göttlichen Muse des Tanzes und der Mutter Matka kommt auch seine Ehefrau Remola vor, mit der er zwei Kinder gezeugt hat und die ihn mehr als 30 Jahre lang durch seine Karriere und seine Krankheit bis zum Tod begleitet hat – sie alle sind tänzerisch hervorragend, aber rollenmäßig unscheinbar.

Sexualität ohne Zärtlichkeit

Bei Goecke dominiert die Homosexualität von Nijinski. In der getanzten Sexualität ist keine Zärtlichkeit erkennbar; sie ist wuchtig, fordernd und dominant, einerseits von Djiaghilew und andererseits von Nijinski zu seinem Freund Isajef. Die Heftigkeit, mit der sich die Männer begegnen, hat weniger mit Liebe als mit Macht zu tun. Erotisch wirken diese Posen nicht, eher kämpferisch. Zärtliche Momente gibt es keine, die körperlichen Kontakte sind konkret, vom erzwungenen Zungenkuss bis zum Griff in die Hose.

Tanzen bis zum Wahnsinn

Zu Anfang des Stückes fällt ein bühnengroßes Bild des jungen Nijinskis herab und weist damit schon auf einen drohenden Absturz hin. Die Bewegungen der Tänzer*innen sind zuckend und nervös, schnelle und federnde, kleine Ballett-Schritte stehen im Gegensatz zu  weit ausholenden Armbewegungen, wie Windmühlen kreisende, isolierte Gesten, die nichts Weiches, Verbindendes an sich haben. Ein Tanz, der in den Solos sehr ausdrucksstark ist, noch intensiver und wirksamer in den uniformen Gruppenszenen wird.

Schmetterlingsflügel, nymphenähnliche Wesen, Rosenblätter und die Andeutung eines Fauns sind eine Reminiszenz an die berühmten Stücke von Nijinski und der Ballets Russes. Der Duktus von Goeckes Tanzstil scheint sich mit dem Charakterzug von Nijinski zu vereinen. Die Tanzenden schlagen mit flügelgleichen Armen wild um sich, wie Vögel, die zu fliegen versuchen, aber nicht können. Der Körper ist wie ein Korsett, da heißt es nur: tanzen, bis der Wahnsinn kommt.

Je länger der Abend, desto mehr kristallisiert sich der Zwiespalt, in dem sich Nijniki befindet: der Wille, die damaligen Normen von Gesellschaft, Tanz und Sexualität zu brechen, sich den Anforderungen des allmächtigen Dijiaghilew zu widersetzen und gleichzeitig sich seinen eigenen Wünschen und Ansprüchen an die Tanzkunst zu erfüllen.

Spannende Gefühlswelten

Die Musik wählte Goecke mehr oder weniger zufällig aus. Er entschied sich für die beiden Klavierkonzerte von Frédéric Chopin und einem Einschub von Claude Debussys „Prélude à l’apres-midi d’un faune“ (es spielt die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Valtteri Rauhalammi, am Klavier Adrian Oetiker). Das Verhältnis des Tanzes zu Musik ist rhythmisch und emotional meistens synchron, jedoch spannungsgeladener und zeitweise sogar kontrastierend. Die Musik trägt das ihre dazu bei, die emotionale Spannung das ganze Stück lang zu halten. Trotz stereotypen Bewegungen treten bei Goecke Gefühlswelten hervor, von Hass und Verzweiflung, von Dominanz und Abscheu, weniger aber von Liebe und Zuneigung.

Die inneren und äußeren Zwänge und die fortschreitende Krankheit führten bei Nijinski zu immer stärkeren Wutausbrüchen. Goecke, der scheinbar selbst vor Angst- und Panikattacken und von Wutausbrüchen nicht gefeit ist, verbindet bewusst seine eigene Biografie mit der des Künstlers. Die Themen von Nijinski sind Marco Goecke nicht fremd, Erfolg, Applaus, Misserfolg und – gemäß seiner Aussage – auch der Wahnsinn nicht.

Sein Antrieb zum Choreografieren sei die volle Angst, sagt Goecke.

Wogender Schlussapplaus

Umjubelt und mit Bravorufen ging dieser verwirrende und mit seiner konsequenten Reduktion packende Abend zu Ende. Esteban Berlanga als Nijinski verkörperte die Wut und Verzweiflung, den Wahnsinn und das Genie mit so starker Intensität, dass der wogende Schlussapplaus für ihn verdient war. Der Applaus galt auch dem Ballettensemble, das den ungewohnten Tanzstil mit Akribie beherrscht, und dem Choreografen Goecke. Schade nur, dass dieser zum Schluss nicht auf die Bühne trat, um den Erfolg seines Balletts entgegenzunehmen.

Passend ins Programm

Diese Wiederaufnahme passt in das Programm der Zürcher Balletdirektorin Cathy Marston. Das Publikum kann Bezug nehmen auf die Rekonstruktion der berühmten Choreografie „Les Noces“ von Nijinskis Schwester Bronislawa, die in dieser Spielzeit im Rahmen des Programms „Timekeepers“ Premiere hatte. Marco Goecke ist beim Zürcher Publikum schon bekannt durch seine „Petruschka“ (2016) und sein „Almost blue“ (2021), letzteres eingeklemmt und praktisch übersehen im dreiteiligen Abend „Angels’ Atlas“ mit den zwei gewaltigen, fulminanten Choreografien „Emergence“ und dem titelgebenden „Angel’s Atlas“ von der derzeit wohl weltbesten und gefeierten Choreografin Crystal Pite.

Goecke wird Ballettdirektor in Basel

Marco Goecke wurde wegen eines Ausrasters als Ballettdirektor kurzfristig freigestellt; inzwischen hat die Staatsoper Hannover seine Rückkehr bestätigt. Ab der Spielzeit

2025/2026 erhält er einen vierjährigen Vertrag beim Theater Basel. Er wird dort nicht nur die Sparte Tanz kuratieren, sondern auch choreografieren. Zu hoffen ist, dass sein eigenwilliger Tanzstil beim tanzverwöhnten Basler Publikum ankommt. Mit Basel verbindet ihn die Erinnerung an den langjährigen Ballettdirektor Richard Wherlock, dessen Arbeiten er als junger Tänzer kennenlernte.

 

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