„Minus 16“ von Ohad Naharin, Tanz: Guang-Xuan Chen, Venetia Lim Jia Yee, Mitch Harvey, Adamantia Papakyriaki, Ariadni Toumpeki (v.l.n.r.)

Dopamin für St. Gallen

Uraufführung von Alan Lucien Øyens „Will night never come?“ und Premiere von „Minus 16“ von Ohad Naharin in der Ostschweiz

Beckettsche Frage der Einsamkeit trifft auf mitreißende Gemeinschaft. Eine aufregende Begegnung.

St. Gallen, 24/11/2024

Mit einem äußerst kraftvollen zweiteiligen Programm, das sich hinter dem etwas blassen Titel „Moved“ verbirgt, hatte die Tanzkompanie St. Gallen an diesem Wochenende Premiere. Eine Uraufführung von Alan Lucien Øyen mit dem Erfolgsgarant „Minus 16“ von Ohad Naharin zu vereinen, war eine hervorragende Entscheidung ihres Künstlerischen Leiters Frank Fannar Pedersen. Alle, die auf den freien Plätzen des nicht ganz gefüllten Saals im Großen Haus des Theaters St. Gallen hätten sitzen können, haben etwas verpasst. Es sei ihnen dringend empfohlen, dies bei einer der knapp einem Dutzend Folgevorstellungen nachzuholen.

Die Uraufführung von „Will night never come?“ bescherte dem norwegischen Choreografen Alan Lucien Øyen in diesem Jahr nach den erfolgreichen Auftritten seiner eigenen Compagnie winter guests beim Steps Festival den zweiten Aufenthalt in der Schweiz. Frank Fannar Pedersen hat den renommierten Künstler dafür gewinnen können, zum ersten Mal für eine Schweizer Compagnie ein Werk zu kreieren. Für ihn ein Wunschkandidat, da er schon in jungen Jahren in seiner isländischen Heimat von Arbeiten des damals am Anfang seiner Karriere stehenden Øyen zutiefst fasziniert war. Er bezeichnet ihn als „unglaublichen Künstler und Poeten“.

Verweben von Sprache und Bewegung

In der Tat hat Alan Lucien Øyen (gemeinsam mit seinem Co-Choreografen Daniel Proietto) hier ein Werk geschaffen, das kunstvoll Menschlichkeit und Verletzbarkeit Raum gibt und dabei unmittelbar und authentisch wirkt. Sein Titel ist ein Echo von Vladimirs wiederholter Frage in Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Wie immer in Øyens Stücken wird viel mit Sprache gearbeitet. Die Worte und fragmentarischen Texte sind eine berührende Mischung aus zufälliger Alltagspoesie und profunden Aussagen und stammen größtenteils von den Tänzerinnen und Tänzern selbst. Sie haben im Probenprozess viel Freiheit erhalten, Persönliches einzubringen. Nebst dem kongenialen Sounddesign von Svein Sandvold verwebt sich – teilweise fast wie im Stream of Consciousness – die Sprache eindringlich und doch unaufdringlich mit dem Tanz.

Das etwa 50-minütige Stück, das Andrea Lippoli beginnen und enden lässt, beschäftigt sich mit der Suche nach Innehalten angesichts der Überforderung und der Atemlosigkeit, der die Menschen durch die pausenlose Flut von Informationen und Bildern auf allen Kanälen ausgesetzt sind. Diese Thematik findet ihre Übersetzung in Øyens charakteristischem Bewegungsvokabular, das mal rastlos flirrend und fast wie aus dem Körperinnersten aufgezogen wirkt, mal tastend und austarierend Berührung und Gemeinschaft sucht, aber selten findet. Der Versuch, sich selbst, anderen und den äußeren Anforderungen gerecht zu werden, ist ein auszehrender Akt, der hier nicht nur mit Bewegung, Worten und Musik, sondern auch immer wieder mit Tönen und sogar mit Kläffen und Bellen bis zur Verausgabung begleitet wird. Ein witzig-schräger, aber auch beklemmender Moment.

Die zwölf beteiligten Tänzerinnen und Tänzer haben gleichermaßen Verdienst an der intensiven theatralischen Wirkung des Stücks, in dem sich Soli, Duette, Gruppenszenen stets wieder neu zusammenfinden. Wie bei dem Monolog von Emma Thesing, der begleitet wird von einem Duett von Baptiste Berrin und Charmene Pang, fordern Worte und Tanz Ohren und Augen.

Im Zusammenspiel von Bühnenbild (helle, bewegliche Wände mit Türen, von Øyen selbst entworfen), den Kostümen von Stine Sjøygren und dem Licht von Martin Flack und Sigve Sælensminde entstehen immer wieder cineastisch anmutende Bilder und Momente.

Alan Lucien Øyens hat mit „Will night never come?“ eine große poetische Collage geschaffen, die sich auf allen Ebenen zu einem tiefgehenden, magischen Ganzen zusammenfügt.

Werk mit Kultstatus

Den ungebremsten Siegeszug durch die Spielpläne unzähliger Compagnien auf der ganzen Welt trat „Minus 16“ vor einem Vierteljahrhundert in Den Haag an. Dort schuf Ohad Naharin, der 28 Jahre die Batsheva Dance Company in Tel Aviv leitete und Begründer der Gaga Bewegungssprache ist, für das Nederlands Dans Theater 2 das inzwischen ikonische Werk. Ein guter Griff von Frank Fannar Pedersen, dieses Kultstück nach Sankt Gallen geholt zu habe. Es ist immer wieder schön, zu sehen, wie das Werk für Compagnien ganz unterschiedlicher Größe geeignet ist. Am Theater St. Gallen studierten es Matan David und Ian Robinson, beide ehemalige Batsheva Tänzer, mit dem 17-köpfigen Ensemble ein. Damit ist es hier sehr nah an der NDT2 Originalbesetzung, die 15 Tänzerinnen und Tänzern umfasste.

Damit „Minus 16“ seine euphorisierende Wucht entfalten kann, braucht es eine Portion Verrücktheit, pure Freude an der kreativen Erforschung der Gaga Bewegungssprache und am Tanz an sich, Mut zum Individualismus und zur unbekümmerten Improvisation. All diesem lässt die Tanzkompanie St. Gallen mit explosivem Temperament freien Lauf.

Luis Martinez Gea verausgabt sich schon vor Ende der Pause mit seinem Improvisations-Solo virtuos auf der leeren Bühne vor dem langsam wieder eintrudelnden Publikum.

Dass sie dem herausfordernden Stück gewachsen sind, stellen die Tänzerinnen und Tänzer in der sich stetig steigernden, fast rauschartigen Ritualhaftigkeit der zentralen Sequenz unter Beweis. Zu der Rockversion des Pessach Liedes „Echad Mi Yodea“, die ordentlich das Zwerchfell zum Vibrieren bringt, entfalten sie im Stuhl-Halbkreis ekstatische Energie bis sie sich während der letzten der 13 Strophen sukzessive Hemden, Schuhen und Hosen schleudernd entledigen.

Das mitreißende Gemeinschaftsgefühl, das „Minus 16“ entstehen lässt, wird vom Schluss des Stücks nochmals gesteigert. Mit einem kollektiv erhöhten Dopaminspiegel endet dieser Abend, an dem sich zwei kontrastreiche und aufregende Werke begegnen dürfen.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern