Typisch tierisch, allzu menschlich
„Just a game“ in Mannheim
„Seasons in Dance“ im Tanzhaus des Mannheimer Nationaltheaters
Gemessen an der Zeit, die es bis zur Bühnenreife braucht, sind Tänzerkarrieren kurz; Ensemblemitglieder jenseits der Vierzig sind die absolute Ausnahme. In den letzten Jahren ist zum Glück eine erhöhte Sensibilität für dieses Thema sichtbar geworden – einerseits durch Unterstützungsmaßnahmen am Karriereende, anderseits auch durch eine vermehrte Wertschätzung für die Bühnenauftritte älter Tanzkünstler*innen.
Im vierzehnköpfigen Mannheimer Tanzensemble von Stephan Thoss, in dem physisch höchst herausfordernd gearbeitet wird, liegt die Altersspanne zwischen 23 und 32 Jahren. Und doch ist da auch Zoulfia Choniiazova, 49 Jahre alt und dem Mannheimer Nationaltheater seit einem Vierteljahrhundert verbunden. Engagiert von Philippe Talard, prägte sie die Ära von Kevin O‘Day und Dominique Dumais mit, bevor sie zur Probenleiterin und choreografischen Assistentin von Stephan Thoss wurde. Inzwischen unterrichtet sie auch an der Mannheimer Akademie des Tanzes – ein längst fälliger Schulterschluss zwischen der renommierten Ausbildungsstätte und der Tanzsparte in der Quadratestadt. Vier ihrer Studierenden hat Zoulfia Choniiazova für ihren choreografischen Part im neuen Theaterabend „Seasons in Dance“ mit ins Boot geholt.
Stationen einer Tänzerkarriere
Es geht an diesem Abend um die typischen Stationen in einer Tänzerkarriere, aber auch um die Entfaltung eines Ensembles. Stephan Thoss hat das Choreografieren für diesen Abend in die Hände von vier Ensemblemitgliedern gelegt – und damit sozusagen wettgemacht, dass in der letzten Spielzeit die schon zur Tradition gewordene „Choreografische Werkstatt“ mit Arbeiten aus den eigenen Reihen entfallen musste. (In dieser Spielzeit wird das Format wieder angeboten).
Um es vorwegzunehmen: Dieser Tanzabend ist ein höchst gelungenes Experiment mit einer fantastischen Selbstdarstellung des Mannheimer Ensembles, das vom Premierenpublikum im Mannheimer Tanzhaus langanhaltend gefeiert wurde. Die vier Choreograf*innen haben nicht nur große Individualität unter Beweis gestellt, sondern auch ein feines Gespür für den Einsatz ihrer KollegInnen und Kollegen – und nebenbei einen souveränen Umgang mit Licht, Kostümen, dem variablen Bühnenbild, Projektionen und diverser Musik von Techno bis Enrico Enaudi.
Rückendeckung beim Abschied
Selbstredend blieb Zoulfia Choniiazova der „Winter“ vorbehalten – aber bevor es auf der Bühne schwarzen Schnee regnet und sich eine Tür ins Ungewisse öffnet, lässt sie das ganze Ensemble noch einmal so richtig hochleben. Alle sind am Start für neue Herausforderungen – und wenn einer oder eine kurz zu straucheln droht, dann findet sich im passgenauen Augenblick eine helfende Hand. Mit dieser Rückendeckung geht beim Abschied aus dem Tänzerleben nicht nur ein Licht aus, sondern ein neues an.
Tänzer und Choreograf Albert Galindo steht nicht mehr am Anfang seiner Karriere, und doch fängt mit seinem Part „Primavera“ der Tanz auf der Bühne jedes Mal neu an: mit der Angst, vor den Vorhang zu treten. Mit Witz und Überraschungseffekt lässt er eine fünfköpfige Truppe in fiebriger Atmosphäre hinter der Bühne agieren, bevor die Vorstellung beginnt. Nicola Prato ist eine vom Lampenfieber zerfressene, leblose scheinende schlaffe Puppe, die von den Übrigen mit allerhand drastischen Maßnahmen in die aufrechte Haltung manövriert wird. Am Ende beginnt die Tänzerkarriere immer wieder neu: mit dem Durchschreiten des magischen roten Vorhangs.
Sommer(nachts)traum
Luis Tena Torres greift das Sommermotiv („Verano“) auf und lässt eine Tänzerin am Rand eines Swimming-Pools einschlafen. Im Traum – und auf dem sommerlichen Höhepunkt der Karriere – ist alles möglich, und so verwandelt sich das Bett in zwei überdimensionale Rollbretter. Plötzlich ist nichts mehr sicher für die sieben Ensemblemitglieder, die den festen Boden verlassen und sich der Kraft der Beschleunigung aussetzen.
Nach so viel Herausforderung ist es höchste Zeit für souveräne Lässigkeit – das erklärte Lebensgefühl von Langzeit-Ensemblemitglied Emma Kate Tilson („Fall“). Aber dann kommen 30 Meter hautfarbener Stoff ins Spiel, und die gechillte Atmosphäre weicht der Hochspannung tänzerischer Balancearbeit. Die Amerikanerin verbindet schon seit Längerem aktiven Tanz mit choreografischer Arbeit in der quirligen freien Mannheimer Tanzszene.
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