Ritual des neuen Mannes
„Lemniskata” von Lukas Avedaño feiert auf Kampnagel Europapremiere
Wenn ein Abend in der Hamburger Kampnagelfabrik als „partizipatives Theatererlebnis“ angekündigt wird, weiß man schon: Das wird jetzt nicht das, was man bei einem Tanzabend üblicherweise erwarten kann. Zumal er in der etwa 300 Menschen fassenden K2 stattfindet und nicht in der sonst aufgrund der hohen Nachfrage in Hamburg von Sasha Waltz bespielten, sehr viel größeren K6. Und noch mehr, wenn der Titel klarmacht, dass es offenbar um assoziative Elemente geht, die mit der Hirnforschung zu tun haben: Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die ähnliche Reaktionen in uns hervorrufen wie das, was wir sehen. Das kennt jede*r aus Filmen: Wir lachen und weinen mit den Darsteller*innen, wir erstarren wie sie vor Schreck oder fiebern mit, wenn es um Leben oder Tod geht. Dieses Prinzip macht sich Stefan Kaegi, Mitglied des Autoren-Regie-Teams Rimini Protokoll, zunutze und hält dem Publikum zusammen mit sieben Tänzer*innen von Sasha Waltz & Guests den Spiegel vor.
Im wahrsten Sinne des Wortes, denn dort, wo sonst Tänzer*innen agieren, ist eine raumhohe Spiegelwand aufgebaut. Das Publikum sieht nicht andere tanzen, sondern begegnet sich selbst. Gerade am Anfang ist das verwirrend: Wo wird denn jetzt getanzt? Wo sind sie denn, die Akteur*innen? Ganz einfach: Sie sind dort, wo alle sitzen. Und in den Spiegel schauen. Sich selbst und die anderen sehen. Und es passiert, was meistens passiert, wenn Menschen nicht so recht wissen, was sie in so einer Situation machen sollen: Es wird rumgekaspert. Einige fangen an zu winken. Schneiden Grimassen. Stehen auf und setzen sich wieder.
Unsichtbare Tänzer*innen - echte Reaktionen
Und man kann dabei erstaunt erkennen, wie ansteckend das wirkt. Eine*r fängt an, die anderen machen es nach. Spiegelneuronen sei Dank. Stimmen aus dem Off bestätigen das: Sechs Expert*innen erklären, was es damit so auf sich hat: eine Kulturwissenschaftlerin, ein Hirnforscher, ein Professor für Künstliche Intelligenz, eine Professorin für Psychologie und Soziale Neurowissenschaften, eine Wissenschaftsjournalistin, eine Expertin für Rehabilitationswissenschaften. Das ist amüsant und erhellend zugleich, denn es entspricht genau dem, was im Auditorium passiert.
Angeheizt wird das Verhalten der Menge durch die im Publikum verteilt sitzenden, aber als solche nicht erkennbaren Tänzer*innen. Sie geben immer wieder Impulse, ohne dass dies als solches wirklich klar ist. Das wirkt animierend, und es kommt sogar so etwas wie eine „La Ola“ zustande, die man aus den Fußballstadien kennt. Mit der Zeit wird die Menge mutiger. Was, so fragt eine Stimme aus dem Off, würde wohl passieren, wenn das Miteinander noch etwas intensiver würde, zum Beispiel, indem man sich an der Schulter berührt? Wo beginnt, wo endet der Bereich, der nur zu einem selbst gehört? Wo kann und will ich mich mit den anderen verbinden? Und wieder entstehen erstaunliche Bewegungsmuster – man reicht sich die Hände, auch über die Reihen hinweg, man lehnt den Kopf an die Schulter des Nachbarn, und irgendwann tanzt das ganze Publikum, zumal, wenn die Musik (zusammengestellt von Tobias Koch) Club-Atmosphäre verbreitet.
Alles kann, nichts muss
Und doch lässt das einige unberührt, sie verweigern sich der Masse und machen nicht mit, was alle machen. Auch das wird toleriert – so wird im Kleinen deutlich, was auch im Großen gelten sollte: nichts muss, alles kann. Respekt vor dem Anderssein ist der Schlüssel dafür.
Plötzlich greifen einige in die Tasche und befördern grellgelbe Luftballons hervor, die flugs aufgeblasen werden und sich über das Publikum verteilen (und hier wird zum ersten Mal deutlich, dass Animateure in der Menge sitzen) – auch das ein tänzerisches Spiel, bis sie wieder gezielt eingefangen und unter den Sitzen versteckt werden.
Und so steigert es sich zum Schluss hin, wenn sich die sieben Tänzer*innen aus der Menge lösen und sich in diversen Verrenkungen über die Reihen hinweg nach oben bewegen. Bis auf der Spiegelwand Projektionen erscheinen, die klar machen, dass alles im Fluss ist, dass wir nie nur wir selbst sind, sondern immer in Beziehung zu anderen stehen. Das mag eine Binsenweisheit sein, aber sie kann uns gar nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden. Schon gleich, wenn es mit einer so spielerischen, unterhaltsamen Selbstbespiegelung geschieht wie in diesem Stück.
Hinweis: Die hier gezeigten Fotos sind nicht von der Aufführung auf Kampnagel, sondern entstanden im August 2024 im Rahmen einer anderen Vorstellung.
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