Muskelspannungen
Fotoblog von Ursula Kaufmann
Emanuele Soavi in company mit „Stormsongs“ beim Move!-Festival in der Krefelder Fabrik Heeder
Wie lang ist der Weg von Etta James bis zu Händel? Bei Emanuele Soavi ist er kurz. Und dafür bricht er nichts übers Knie. Für „Stormsongs“ hat er aus Elementen und Szenen bisheriger Arbeiten geschöpft und diese neu gedacht. Das Ergebnis ist ein zweiteiliger Abend, der nur auf den ersten Blick zwei gegensätzliche Welten kontrastiert. Tatsächlich lassen sie sich eher wie zwei Seiten des Menschen lesen, zwei Seiten, die sich eben nicht widersprechen.
Etta James macht den Auftakt, fern, im Dunkel. Aus einem Smartphone klingt ihr Song „Stormy Weather“. Die Taschenlampe am Handy beleuchtet den Weg zwischen den Säulen des Saals hindurch. Was drei Gestalten mit ihren Smartphones in der Mitte der Bühne ausleuchten, aus allen drei beklagt Etta James ihre Einsamkeit, ist eine Art voyeuristischer Moment: In der Mitte, noch immer im Dunkel, liegt eine große, quadratische Matratze auf einem niedrigen Podest. Die mögliche Lesart eines Altars entsteht erst durch den zweiten Teil des Abends.
Auf der Matratze: Taeyeon Kim, sich räkelnd, verführend, sich im Licht der Beobachter wissend, unter deren Kamera-Augen. Damit gibt sie die Regisseurin, ausgestellt, bloß liegend, aber gleichzeitig stark und bestimmend. Die anonymen Randfiguren in ihrer Passivität bekommen nur das, was sie ihnen gibt. Sie genießt die Peep-Show, die heute OnlyFans heißt, und zieht sich langsam, ganz langsam genüsslich ihr Oberteil über den Kopf hinweg aus. So scheint es zumindest für einige Momente. Bis sie es zurückschiebt. Sie hat hier das Sagen.
Schließlich dürfen aber doch alle „auf dem Bett“ mitspielen. Ein zentraler Schweinwerfer über der Bühnenmitte entwirft eine einzige Lichtstimmung. Er setzt auch den zweiten Teil in Szene. Und was auf dieser Matratze abgeht, das sind unverkennbar Forsythes Improvisationstechniken. Soavi selbst hat in den Niederlanden in drei Stücken des Großmeisters getanzt. Seitdem hat er sich aber weiterentwickelt und geht seinen eigenen Weg, wie er im Gespräch betont.
Improvisationstechniken von William Forsythe
Etta James wird abgelöst von trocken-stumpfen Sounds, Bruchstücke, die dem energiegeladenen Fallen auf die weiche Unterlage ordentlich Verve verleihen. Die vier Tänzer*innen erleben sichtbare Momente der Anziehung. Zeitweise wirken zwei wie an den Köpfen miteinander verbunden. Auch, wenn sie sich immer wieder voneinander lösen, entstehen dabei keine Brüche. Die Forsythe-Technik garantiert ein geschmeidiges Fließen. So hat trotz des Abprallens und Zurückfederns von der Matratze eine ruhige Sanftheit die Oberhand. Das ist kreativ, bleibt in der Aussage allerdings vage. Erst gegen Ende der guten 30 Minuten erscheint die Auflösung. Die Matratze, jetzt hochkant, rückt direkt in den Fokus, wodurch deutlich wird, dass ihr eine Art Fetisch-Charakter zukommt. Ein bisschen ist es wie ein Tanz um das Goldene Kalb.
Damit wird eine von mehreren Verbindungen zum zweiten Teil des Abends sichtbar. Golden ist dann nämlich der Tanzboden. Soavi greift für diesen Teil Musik Händels auf, mit der er bereits gearbeitet hatte. Es ist die Zeit des Barock, in die er sein Publikum mitnehmen will. Dazu bewegt er sich während der Umbaupause mit einem flachen, rauchenden Gefäß auf einer Kochplatte langsam über die Bühne. Diese „barocke Nebelmaschine“ verbrennt Salze (wie Salpeter). Im Barock erzeugte man so künstlich Bühnennebel. Ein atmosphärischer Nebeneffekt: ein nicht direkt angenehmer Geruch.
Händel ist hier in einzelne Noten zerlegt, wodurch Klänge entstehen, die die Atmosphäre direkt in eine Kathedrale zu verlegen scheinen. Die Bewegungen der drei Tänzer*innen wirken jetzt wie umgekehrt zum ersten Teil. Die expressive Lebendigkeit ist einer verhaltenen Einkehr gewichen, mit Bewegungen zur Körpermitte hin. Ein Blick nach innen wie beim Gebet. Alle drei tragen identische Oberteile mit strukturierter Oberfläche in nachtblau. Eine Uniformiertheit, die sie zu einer Gemeinschaft macht, vielleicht eine Gemeinschaft im Glauben.
Das Orakel bleibt stumm
Eine ganze Zeit von ihnen ignoriert thront am linken vorderen Rand der Bühne sitzend eine dunkle Gestalt, mit dem Rücken zum Publikum, reglos, überirdisch, in einem Ledermantel und mit überdimensioniertem, ausgefallenem Headpiece. Ganz in Schwarz, aber nicht bedrohlich. Wie eine Altarfigur verharrt Joel Small in dieser Rolle. Bis sich schließlich erst eine lange, schlanke Hand aus der Mitte dieser Figur löst, noch immer unbeachtet von den anderen.
Als sich die gottgleiche Figur schließlich umdreht, blickt man in ein androgynes, aufwendig geschminktes Gesicht mit glitzernden Lippen. Diese öffnen sich wie zu einer Predigt, einer Weissagung. Doch das Orakel bleibt stumm. Die Botschaft lässt sich nicht dechiffrieren. In fast ritueller Ergebenheit schälen die Tänzerinnen diese Gottheit aus ihrem Mantel. Ein bloßer Oberkörper in schwarzem Korsett, entrückt, fremd. Auch die Tänzer*innen legen ihre Oberteile ab. Darunter nur Schwarz. Joel Small bekommt hier keine Gelegenheit, aufzufahren, was er bei der Dresden Frankfurt Dance Company unter Jacopo Godani hat ausleben können. Hier ist er, so ironisch das klingen mag, reduziert auf seine Größe, reduziert auf seine schlanke Erscheinung mit endlos lang wirkenden, bloßen Armen. Die Arie Händels, zu der dieser fremde Gott schließlich synchron die Lippen bewegt, erklingt wie eine Erlösung. Das Endliche des Menschen lebt im Transzendenten fort. Ein Kommentar zu den unbekümmerten Aktionen auf der Matratze? Dieses „Memento mori“ wirkt zumindest nicht wie eine Warnung. Es erscheint eher als Trost.
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