Urban Dance wird akademisch
Urban Dance Academy in Heidelberg gegründet
Stücke urbaner Tanzkünstler über Identität, Bewegung, Kunst und Emotionen
Laute und den Körper wach machende Beats drangen am Sonntag ab Mittag über Stunden aus der Citykirche Heiliggeist, die historisch als Geburtsort des Heidelberger Katechismus gilt. Wen es in den lichtdurchfluteten und in Rot- und Orangetönen gehaltenen Kirchenraum mit seinen unfassbar elegant nach oben strebenden Säulen hineingezogen hat, und wer dort gar mehrere Stunden lang geblieben ist – klatschend, johlend, bewundernd, mitfiebernd und groovend – als Teil einer großen Gemeinschaft mit einem auffallend positiven Spirit, den man einfach auch schlicht mit Liebe und Respekt füreinander beschreiben könnte, der ging danach verändert nach Hause.
Pralle Woche
Hinter sich gebracht hatte man eine prall gefüllte Woche, in der mehrere Institutionen und Persönlichkeiten in Heidelberg und Mannheim gemeinsam zum „Urban Bodies“-Festival geladen hatten, so das Nostos Tanztheater unter Leitung von Christina Liakopoulou, das Theater Felina Areal unter Leitung von Sascha Koal, die Citykirche Heiliggeist in Heidelberg mit dem kunst- und kulturbegeisterten Pfarrer Vincenzo Petracca und der urbane Weltmeister-Tänzer David Kwiek, Mr. Quick, aus Mannheim. Gefördert von den Kulturämtern der Städte Mannheim und Heidelberg, vom Zentrum für Kulturelle Teilhabe Baden-Württemberg, der Stiftung der Landesbank Baden-Württemberg und dem Kulturbüro Chamäleon von Angela Wendt haben die Festivalmacherinnen und -macher dabei dem künstlerisch immer noch wie in einer Parallelwelt existierenden, jedoch gesellschaftlich bedeutenden urbanen Tanz unter dem Motto „Weit mehr als Breakdance“ eine mal wieder die längst überfällige Möglichkeit gegeben, im wahrsten Sinne des Wortes selbst und autonom, ohne Ein- oder Zugriffe des klassischen oder zeitgenössischen Hegemons im Bühnentanz, „vorzutanzen“, wie sehr Hip Hop, Breakdance, Popping, Locking, House, BBoying , Krumping, Waacking, aber auch Rap, Graffiti und Beatboxing entweder alleine oder in Kombination mit Malerei, zeitgenössischem Tanz, Video und Drums längst künstlerische Bühnenreife jenseits ihrer Szene internen Battles und Shows erlangt haben und gleichberechtigt in den Spielplänen auftauchen müssten.
Sieben Tanzstücke, darunter mehrere Uraufführungen, deren Choreografinnen und Choreografen beim Festival analog zu Meisterkursen und ganz im Sinne des "Sharing Knowledge" alle dramaturgische Coachings erfahrener Kolleginnen und Kollegen erhalten haben, waren in diesem Zusammenhang in den vergangenen Tagen vor allem im Theater Felina-Areal zu erleben. Gekrönt wurde dies von einer mehrstündigen Urban Dance Battle in allen Stilen am gestrigen Sonntag in der Citykirche Heiliggeist, zu der jene Tänzerinnen und Tänzer jeden Alters der neuen Generation aus den Hip-Hop-Hochburgen in Deutschland und Europa angereist waren, die zu den leidenschaftlichsten und vor allem besten ihrer Zunft und jeweiligen Altersklasse gehören. Gemeinsam bildeten sie nonchalant „one world“, eine Gemeinschaft, in der alle Menschen, egal welcher Hautfarbe, Herkunft und Bildung, gemeinsam den urbanen Tanz lebten – und egal, welche Job und Aufgaben am Montag wieder auf sie warteten: Urbane Tänzerinnen und Tänzer sind tagsüber Physikstudierende, Lehrer, Ärzte, Doktoranden, Auslieferer, Verkäufer, Schüler und welche Berufe und Ausbildungswege es sonst noch gibt. Trainiert und praktiziert wird urbaner Tanz so weiterhin in der Freizeit zuhause, auf der Straße, in der eigenen Crew in der Stadt und beim Event. Dass seine besten Vertreterinnen und Vertreter dabei locker mit Tänzerinnen und Tänzern der zeitgenössischen Szene oder – was die körperliche Fitness und Virtuosität anbelangt – mit professionellen Balletttänzer*innen mithalten können, konnte man bei diesem Festival wieder erleben.
Urbaner Gottesdienst
Und so hatte Pfarrer Petracca am letzten Tag zur Einstimmung vormittags zum urbanen Gottesdienst geladen, bevor die Jury, bestehend aus Pdog, einem Ausnahmetalent in der Disziplin Krumping, Rymon Zacharei alias Rayboom und der aus China stammende Locking-Star Popsail vorm Altar Platz genommen hatte. Beeindruckend war dabei, egal wer in welchem Alter – ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener – um den Einstieg ins Finale tanzte, wie die Einzelnen kreativ und virtuos die kurzen Improvisationen gestalteten und dabei vor allem das narrative Potenzial des Hip-Hop frei setzten.
Gerade der zum Schluss gegen die ungemein präzise tanzende Ashley Weiss aus Strasburg knapp unterlegene, seit mehr als zehn Jahren international tourende Hip-Hop-Tänzer und Finalist Ousman Conteh aus Bad Nauheim legte offen, in welch rascher Abfolge eine Vielzahl an mentalen Zuständen und Emotionen allein durch Gesten und Moves aufblitzen und szenisch als Kommunikation mit dem Körper eingesetzt werden können. Dieselbe Qualität, im Jetzt zu tanzen, was ansteht, und was das eigene Erleben in der Welt authentisch und ehrlich zum Ausdruck bringt, verwirklichten Nasrin Torabi und Diana Schöne alias Ruby aus Düsseldorf mit ihrem Stück „Schneeweißchen und Rosenrot. Postmigrantische Realitäten“. Auf schwarzem Tanzteppich dort, wo sich einst die berühmte Bibliotheca Palatina befand, erzählten sie in einer dichten und ergreifenden, choreografisch im Raum ungeheuer klar gesetzten Mischung aus Tanztheater, Dia-Show, Videoprojekt, choreografischem Theater und Mini-Hip-Hop-Battle. Getragen wurde dies von Rap sowie den Geräuschen und Melodien ihrer familiären Herkunftskulturen in der Ukraine und im Iran, eindringlich und poetisch von den sich in ihrem Körper, ihrem Gedächtnis und ihrem Selbstverständnis abgelagerten kulturellen Identitäten: Ein Erleben, das sie heute mit einem Viertel der Gesamtbevölkerung in Deutschland teilen, bei dem Migration zur biografischen Kernnarration gehört.
Die Frage nach der eigenen Identität
Die Frage nach der eigenen Identität bildete auch für Lydia Tesfai den Motor, sich auf dem Hip-Hop-Genre eine Karriere aufzubauen. Die Vollblut-Künstlerin des Breaking mit dem prall gefüllten Terminkalender hatte, wie sie erzählt, zunächst einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Als Kind geflüchteter Eltern aus Eritrea ist sie nordöstlich von Baden-Baden in Gaggenau im Schwarzwald aufgewachsen. Von dort aus habe sie sich ihren Bildungsweg erarbeitet und habe nach dem Abitur im Jahr 2008 schließlich ein Studium in Wirtschaftsrecht ausgerechnet in Stuttgart begonnen, das sich in den 1990er Jahren – neben den anderen legendären Brutzellen der Hip-Hop-Kultur in Deutschland nachgewiesenermaßen in Heidelberg, Mannheim und Bietigheim-Bissingen – zum Hip-Hop-Mekka entwickelte. Als Titel wählte sie für ihr erstes Solo „Embaba“. Zusammengekauert sah man sie dabei im Dunkeln in der Mitte der Bühne sitzen, während im Hintergrund mehrere schwarze Frauen in rasch hintereinander geschnittenen Videos von ihrer Wut erzählen, wieviel Kraft es kostet, als schwarze Frau seinen Weg zu gehen, da man realisiere, dass man als schwarze Frau anders gesehen werden als als weiße. Als danach Andreas Reimer am Schlagzeug einsetzt, den Rhythmus zu setzen, startet Tesfai, nur mit Schritten und Bewegungen – angefangen bei Toprocks über Märsche, um die italienischen Kolonialherren in ihrem Heimatland zu zitieren, bis zu volkstümlich anmutenden Bewegungen und schließlich ganz klarem, zeitgemäßen Hip-Hop – rein tänzerisch von den verschiedenen Kulturen und damit verbundenen Erfahrungen zu erzählen, die sich in ihrem Körper und dessen Gedächtnis vermischen. Ihr Solo endete mit einer trotzigen Geste, sich als ebenfalls schwarze Frau nicht unterkriegen zu lassen.
Meisterhafte Stücke
Der Durchbruch zu großer Kunst gelang in dieser besonderen Mannheimer und Heidelberger Woche unter anderem Anton „Toschkin“ Schalnich, Rymon Zacharei sowie Constantin Trommlitz und Lara Szymanski Canaro. Schalnich ließ Egon Gerber und Oriana „Glory“ Zeoli so formvollendet und minimalistisch zum Thema „Schrei“ agieren, dass man dachte, hier hat es jemand geschafft, den Tanz von dem Punkt aus, an den ihn Marco Goecke mit seiner unverwechselbaren, alle Achsen, Positionen und Teile des Körpers von innen bespielenden Bewegungssprache geführt hat, um den nächsten Schritt nach vorne zu bringen. Wie bei Goecke und noch stärker arbeiteten die beiden Ausnahmetänzer aus Räumen unter der Haut und dem Innersten der Muskeln heraus, im Dunkeln beieinander stehen, während in einem eng am Körper geführten repetitiven Bewegungsfluss eine sich expressiv entfaltende Sequenz offenbart, die nur Eines zum Inhalt hat: Die Erzählung von der nicht auflösbaren Verzweiflung zweier Menschen. Gleich stark und atemberaubend ehrlich und schön zuvor das Duett „Antibodies“. Wie mit Kleber am Boden befestigt, rangen Trommlitz und Canaro dem Boden mühsam eine Bewegung nach der anderen ab.
Choreografisch waren sie dabei so fein aufeinander abgestimmt, dass ihr von Widerstand und Schwere gekennzeichneter Bewegungsfluss rasch eine derart hohe nonverbale Beredsamkeit entfaltete, dass man verstand, hier geht es um sie und um ihn, und wie sie miteinander sprechen und sich entdecken, obwohl die Dinge noch schwer sind. Dieses hochathletisch und dabei künstlerisch wie ein Schmetterling in der Nacht flatternde Duett berührte durch seine große Wahrhaftigkeit, Authentizität, harte Sinnlichkeit und pure Schönheit im urban-zeitgenössischen Bewegungsprofil.
Zu Begeisterungsstürmen rissen das Publikum schließlich Beatboxer Carlos Howard und Rymon Zacharei mit ihrem Stück „Sctratch & Beatbox“ hin. Howard vermochte aus seinem Körper und Kehlkopf derart viele lautmalerischen Sounds, Töne, Geräusche, Glucksereien herauszuholen, dass er dadurch die gesamte Musik für Zacharei ersetzte. Die Szenerie, in der sie sich befanden, war dabei surreal: An der Wand hing großes Papier, besprüht mit Umrissen, rechts daneben ein Ohrensessel, eine Kommode mit Kassettenrekorder und links eine Leinwand auf dem Boden. Ihr hinreißendes Stück mäanderte von einem Machtspiel zwischen den beiden zum nächsten und thematisierte dabei in einer umwerfend schrägen Dramaturgie am Beispiel der amerikanischen Kunst des 20. Jahrhunderts, angefangen beim Expressionismus bis zur Pop-Art und der Graffiti-Kunst, das wohin sich die Kunst gerade mit dem Hip-Hop hin entwickelt: in neue, wichtige und vor allem unerschrockene und am eigenen Leib erfahrene Erzählungen hinein. Chapeau!
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