„UnderDogs“ von Anne Nguyen / Compagnie par Terre

Bühnenkämpfe, Straßenkämpfe

Antonio Ruz und Anne Nguyen bei der Tanzbiennale Heidelberg

Ruz' „Norma“ stellt auf einem schmalen Grat Seherfahrungen infrage. Nguyens „UnderDogs“ gelingt starke Bilder abseits von einfachen Antworten auf Verteilungskämpfe.

Heidelberg, 09/02/2025

Mit dem Bühnenstück „Sechs Personen suchen einen Autor“ stellte Nobelpreisträger Luigi Pirandello das Illusionstheater infrage. Vergleichbares schwebte dem spanischen Choreografen Antonio Ruz in seinem brandneuen Stück „Norma“ vor (Europatournee-Premiere auf der Tanzbiennale): Seine fünf Darsteller*innen unterlaufen die übliche Erwartung an den Bühnentanz auf individuell ganz unterschiedliche Weise. Geraffte, schwülstig rote Vorhänge als Bühnenbild und Musikzitate aus dem Opernrepertoire suggerieren eine Tradition, von der es sich abzuheben gilt. 

Die Tänzer*innen fallen allesamt durch Abweichungen von gängigen ästhetischen Idealen auf. Beherzt und beständig machen sie ihr eigenes Ding – ob selbstironische Lachnummer oder sexy Solo, ob maskuline klassische Posen und große Sprünge in femininem Outfit oder Sinnsprüche zur Selbstakzeptanz, ob Nacktheit oder Gruppenspaß – der Choreograf spielt mit den Seherwartungen des Publikums. Es soll, so sein Anspruch, mit den Darstellern gelacht werden statt über sie – ein schmaler, gelegentlich absturzgefährdeter Grat. 

Anne Nguyen (Frankreich) hat dagegen sehr genaue Vorstellungen davon, was die drei Protagonisten ihrer Compagnie „Par Terre“ in der Choreografie „UnderDogs“ mit ihren Körpern ausdrücken. Urban Dances sind für sie Kompetenzfeld und Herzensangelegenheit – so wichtig, dass sie ihre drei Tänzer*innen persönlich nach Heidelberg begleitete. Ihr selbst eilt ein beachtlicher Ruf voraus: Weltmeisterin im Breakdance, vertraut mit Martial Arts und den unterschiedlichsten Tanzstilen, studierte Physikerin und erfolgreiche Autorin. Die persönliche Begegnung lässt erahnen, welche unerhörte Energie die Erfolgschoreografin entfalten kann, die schon vielfach urbanen Tanz auf der Theaterbühne salonfähig gemacht hat.

„UnderDogs“ entstand in der Corona-Zeit mit nur zwei Tänzern und einer Tänzerin, allesamt aber Schwergewichte in ihren speziellen Disziplinen (Popping, Waacking, Locking …) Die Kernszene des Stücks, eine Zeitlupen-Kampfszene in, mit unerwartetem Ausgang, erfand die Gruppe spielerisch wie von selbst. Um dieses Zentrum konnte Anne Nguyen das Stück beinahe organisch entwickeln – entlang der Frage, wie Gewalt auf der Straße entsteht. Armut lässt sich leicht als eine der Ursachen ausmachen, aber Geld im Überfluss führt zu Verteilungskämpfen, Neid und Betrug – am Ende werfen die Darsteller*innen ihre virtuellen Münzen wieder weg. Immer wieder gelingen der Choreografin starke Bilder abseits von simplen Antworten. Mit feinem Gespür für die individuelle tänzerische Ausstrahlung zeigt sie zum Beispiel, warum für eine Tänzerin, die sich in der männerdominierten Hip-Hop-Welt durchsetzen muss, traditioneller Paartanz keine Option ist. Für das Miteinander in den Urban Dances musste neues gestisches Vokabular her – in der Hebelhalle gebührend gefeiert.  

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