Fangas Nayaw im Gespräch mit Ching Ying Weng bei der tanzmesse 2024

Eine Reise auf dem „Friend-Ship“

Warum die taiwanische Tanzszene aktuell so boomt und warum das auch wichtig ist

Der ostasiatische Inselstaat weist ein überaus vielfältiges Feld an Tanzkünstler*innen auf. Bei der internationalen tanzmesse nrw 2024 in Düsseldorf gab es die Gelegenheit, das enorm breite tanzkünstlerische Potential und die stark propagierte Eigenständigkeit des Inselstaats zu erleben.

Düsseldorf, 04/09/2024

Donnerstagnachmittag, Studio 4, tanzhaus nrw in Düsseldorf: Die Choreografin und Tänzerin YU Yen-Fang vollzieht unterschiedliche Dehn- und Aufwärmübungen, spielt immer wieder mit einer am Boden liegenden grauen Decke. Im Hintergrund hörbar das Gewimmel einer belebten Straße und ein bimmelnder Jingle, der im westeuropäischen Kontext das Herannahen eines Eiswagens, in Taiwan – YU Yen-Fangs Heimat – aber das eines Müllwagens bedeutet. Plötzlich wirft sich die Tänzerin mehrere Klamottenschichten über, verlässt den Raum und kommt kurz darauf wieder zurück mit einer völlig anderen Körperhaltung, mit anderen Gesten, einem anderen Sprachduktus. Fortan verkörpert sie ihren Vater, der sich als Handwerker auf das Herstellen von Siegeln professionalisiert hatte. Stets zwischen der offenbaren Fröhlichkeit seines Charakters und der körperlichen Schwere seiner Arbeit changierend choreografiert YU Yen-Fang das Manövrieren durch seinen Laden, imitiert die Telefonate mit Kund*innen im tiefen Hakka-Dialekt. 

Den 15-minütigen Ausschnitt, den YU Yen-Fang bei den sogenannten Open Studios auf der internationalen tanzmesse nrw hier performt, ist ein Teil ihres Stücks „Propositions on Disappearance III“, in dem sie den Tod ihres Vaters verarbeitet. Nach diesem Verlust, so YU Yen-Fang, war sie zunächst in ein tiefes Loch gefallen. Wie ein Spiel oder einen Wettkampf beschreibt sie dann die Zeit im Tanzstudio, in der sie durch die Imitation körperlicher Bewegungsmuster ihres Vaters Erinnerungen an ihn zum Vorschein zu bringen versuchte. Was davon ausgehend schließlich zu einem 90-minütigen Stück verarbeitet wurde, ist eine zutiefst persönlich Erforschung der Vater-Tochter-Beziehung, die gleichzeitig spannende Implikationen über die Familien- und Weltgeschichte mit sich bringt. So erlebte ihr Vater, 1950 geboren, in seiner Kindheit und Jugend die totalitäre Einparteienherrschaft der Kuomintang (KMT), war Zeuge der Demokratisierung ab den 1980er-Jahren und starb 2017 zur Zeit der bis heute wieder brodelnden Spannungen mit und Bedrohungen durch China. Darüber hinaus verhandelt „Propositions on Disappearance III“ das Verschwinden des Hakka-Erbes und des Hakka-Dialekts in YU Yen-Fangs Familie. Die Volksgruppe der Hakka stammt aus den bergigen Regionen Südchinas, Taiwans und Südostasiens und zeichnet sich durch eine besondere Bewegungs- und gestische Sprache aus, in die sich YU Yen-Fang in ihrer Arbeit körperlich einfühlt. 

Seit der Premiere 2019 hat YU Yen-Fang an „Proposition on Disappearance III“ zweimal weitergearbeitet. Mit der Zeit, so erzählt sie, ist der Schmerz über den Verlust zurückgegangen, hat Raum für Liebe und Unterstützung geschaffen und sich auch für die individuellen Erfahrungen des Publikums geöffnet. So bekommt die Choreografin ausgehend von den Umschlägen, die bei jeder Vorstellung verteilt werden, immer noch Briefe von Zuschauer*innen, die sich durch die zutiefst persönliche und liebevolle Performance in ihrem eigenen Umgang mit Verlust und Trauer getröstet fühlten. 

Abseits ihrer sehr persönlichen Performance arbeitet die äußerst eloquente und vielseitige YU Yen-Fang sehr politisch. Das ist auch der Grund, so sagt sie, weshalb sie 2011 nach Etappen in den USA und Europa (darunter als Gastkünstlerin am Staatstheater Kassel und am Schauspiel Frankfurt) wieder zurück nach Taiwan kam. Sie sah darin einen notwendigen Schritt, um sozialpolitische Phänomene von innen heraus kommentieren zu können. Zuletzt arbeitete sie mit zahlreichen Künstler*innen an einer Ausstellung zur taiwanischen MeToo-Bewegung, die 2023 durch das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in der Tanzszene erneut aufgeflammt war. Eine neue Phase möchte YU Yen-Fang in der Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen und Fähigkeiten eröffnen. Das erste Projekt steht hier schon in den Startlöchern.  

Wie auch schon 2022 war die taiwanische Delegation bei der tanzmesse eine der präsentesten. Überaus offen und interessiert bewegten sich die zahlreichen Künstler*innen, Produzent*innen und Vertreter*innen der Kultureinrichtungen durch die Veranstaltungen und warben für die taiwanische Tanzszene, deren vielfältige Spannbreite von klassisch-zeitgenössischen, über indigene bis hin zu digitalen Projekten reicht und die in Deutschland nicht nur bei der tanzmesse, sondern zuletzt auch beim Fokus Taiwan am Staatstheater Darmstadt, beim DANCE Festival München oder jüngst beim Kunstfest Weimar begeisterte. Raymond Wong, stellvertretender Generaldirektor des National Kaohsiung Center for the Arts (Weiwuying), und Joanna Wang, Direktorin für die künstlerische Planung am Weiwuying und ehemalige Direktorin für internationale Angelegenheiten des weltweit bekannten Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan, führten aus, dass es ihnen bei der Teilnahme der tanzmesse weniger nur um den Verkauf von Produktionen und Touring geht, sondern sie vielmehr einen tiefgründigen und langhaltigen künstlerischen Austausch und Netzwerke anstreben. Und auch der taiwanische Botschafter in Deutschland, Prof. Dr. SHIEH Jhy-Wey, der beim taiwanischen Empfang in der AGORA am Donnerstagvormittag zu Gast war, betonte in seiner sympathischen und mit Wortwitzen gespickten Rede die internationalen Freundschaften und Partnerschaften, die für das geografisch isolierte und politisch bedrohte Land so immens wichtig sind. „We came here by ship – called friendship and partnership“ – so in etwa seine Worte. 

Auch wenn bei dieser tanzmesse – anders als 2022 mit „Go Paiwan“ des Tjimur Dance Theatre – keine vollständige Produktion zu sehen war, setzte die taiwanische Delegation einen Schwerpunkt auf indigene Künstler*innen. So veranstaltete TAIWAN MOVE! gemeinsam mit BlakDance (Australien) das Meet-up „A Space for Indigenous Voices“, in dem sich indigene Künstler*innen aus dem heutigen Australien (darunter Joel Bray), Taiwan und Schweden über ihre Arbeit, gemeinsame Erfahrungen und Probleme austauschten und mit weiteren Besucher*innen der Messe ins Gespräch traten. 

Einer der Panellist*innen ist Fangas Nayaw, interdisziplinär arbeitender Choreograf und Mitglied der Amis, dem größten der indigenen Volksgruppen Taiwans. Eigentlich vom Schauspiel kommend stellt er sich in seiner künstlerischen Arbeit nun tänzerisch die Frage, wie er für seinen Stamm einen Beitrag leisten kann. Oftmals werden, so Fangas Nayaw, in Taiwan indigene Performances nur zum Zwecke des Spektakels genutzt, die Hintergründe der Kulturen und das alltägliche Leben der Stämme aber ignoriert – eine Beobachtung, die im Übrigen auch die anderen Teilnehmenden des Meet-ups zu Indigenous Voices teilten. Fangas Nayaws Ziel ist es daher, die oftmals unsichtbaren Mikrodiskriminierungen zu überkommen und Mitgliedern der indigenen Volksgruppen dabei zu helfen, ihren Wert zu fühlen sowie insbesondere jungen Generationen einen Zugang und ein Verständnis über die eigenen Rituale zu ermöglichen. Wichtig ist ihm dabei aber die Differenzierung, dass es nicht um die einfache Repräsentation der Rituale geht – hier solle man doch die Reise zahlen und sich das Original in der Community angucken. Vielmehr möchte er seine künstlerische Erfahrung und Herangehensweise dafür nutzen, den eigenen Stamm neu zu verstehen und das Wissen zu teilen – und das stets im Konsens mit dem Stamm, denn zu Beginn jedes künstlerischen Projekts steht das Bitten um Einverständnis seitens der ältesten Mitglieder der Community. 

Projekte, die aus Fangas Nayaw Feder stammen, sind u.a. ein Durational Happening, in dem er 30 Künstler*innen unterschiedlicher Identitäten in einem Museum versammelte, um über 24 Stunden durch das Aufeinandertreffen und Teilen von Geschichten Stereotype abzubauen. In der 4-Channel-Videoarbeit „La XXX Punk“, die in Deutschland beim DANCE Festival München 2023 gezeigt wurde, warnt Fangas Nayaw in eindrücklicher Manier vor den desaströsen Folgen, wenn indigene Kulturen vollständig verschwinden. In seiner neuesten Arbeit beschäftigt er sich mit der Identität seiner Kinder, bzw. kommender Generationen, deren Vorfahren aus unterschiedlichen indigenen Communities stammen. 

Über die tanzmesse und insbesondere den Austausch mit indigenen Künstler*innen aus anderen Teilen der Erde schwärmt Fangas Nayaw ausgiebig. Zwar stammten sie aus unterschiedlichen Kulturen, jedoch teilten sie viele Themen, Erfahrungen und Probleme. Das gemeinsame Kaffeetrinken, Sprechen und abends Feiern auf der tanzmesse sei wie für einen Moment zusammenzuleben, die Welt zu teilen – die wohl schönste Allegorie auf die wunderbare Messe-Ausgabe in diesem Jahr. 

Im Übrigen sei jeder Person, die die schier unendliche Gastfreundschaft sowie die künstlerische Vielfalt der taiwanischen Tanzszene erleben will, die Taiwan Dance Platform ans Herz gelegt. Sie findet vom 25. November bis 01. Dezember im südtaiwanischen Kaohsiung statt. 

 

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