Es gilt das Wort der Jury
Tanzplattform Deutschland 2024
Von Torben Ibs und Peter Sampel
Die Tanzplattform öffnet sich in diesem Jahr neuen Publikumsgruppen. Das gilt nicht nur (aber auch) für migrantische Perspektiven wie Tümay Kılınçels „we ♥ 2 raqs“ oder Ligia Lewis’ „A Plot / A Scandal“, sondern erstmalig steht auch ein Stück für ein junges Publikum auf dem Programm. Anna Tills „Schwanensee in Sneakers“, zusammen entwickelt mit Nora Otte, ist ein 35-minütiges Solo und zugleich ein illustrer Parforceritt durch 130 Jahre Tanzgeschichte. Während sie mit Unterstützung eines Radios und einem LED-Display in mitunter komischen Situationen die Geschichte des „Schwanensee“ erzählt, deutet sie in kleinen Zwischenszenen und in Dialog mit einer Stimme aus dem Radio andere choreografische Konzepte an. Sie nutzt die Tutorials zu Improvisations-Techniken von William Forsythe, zeigt eine ikonografische Bewegungsabfolge von de Keersmaeker und natürlich auch Schrittfolgen von Petipa. Luftig und voller Witze erschafft sie aus dem Nichts ein Tanzkompendium, um danach mit dem jungen und alten Publikum ins Gespräch zu kommen.
Anders über die Dinge reden
Die Produktion ist Teil von explore dance, einem Netzwerk der Fabrik Potsdam, des K3 in Hamburg, des Fokus Tanz in München und des Festpielhaus Hellerau. Beim Podium des Netzwerks auf der Tanzplattform wurde klar, wie das seit fünf Jahren von Tanzpakt Deutschland geförderte Programm einem jungen Publikum wirklich Anschluss bietet. „Wir können über den Tanz über Dinge reden wie Intimität und Gewalt und das in einem Alter, wo es sonst eher schwierig ist, an die Teenager ranzukommen“, erläuterte der israelische Choreograf Yotam Peled auf dem Podium. Er kam vom Kampfsport zum Tanz und kann hier beides produktiv miteinander verbinden. Auch die brasilianische Choreografin Regina Rossi freute sich darüber, dass man über solche Produktionen Dinge bringen kann, die direkt mit der Realität der Kinder und Jugendlichen zu tun haben: „Sie reagieren anders, viel direkter.“
Direkter Kontakt mit dem Publikum
Die Produktionen können von Schulen eingeladen werden, entsprechend minimalistisch muss die Ausstattung sein, aber zugleich kommen die Künstler*innen in direkten Kontakt mit dem Publikum, der ja oft so vehement gefordert wird. Aktuell hat das Netzwerk 28 Produktionen gestemmt mit 400 Aufführungen, an denen 120 Künstler*innen beteiligt waren. Auch das ist ein deutlicher Vorteil des Netzwerks: Es kommt zu deutlich mehr Aufführungen als bei traditionellen Produktionsweisen. Das nützt allen Beteiligten vor und auf der Bühne.
(TI)
„Mellowing“ von Dance On Ensemble / Christos Papadopoulos
Nachhaltig das Publikum zu beeindrucken gelang ganz besonders Christos Papadopolous und dem Dance On Ensemble – der in Berlin gegründeten Kompanie für Tänzer*innen über 40 Jahre. Zu einem minimalistisch-rhythmischen Soundtrack beginnen die Tänzer*innen in „Mellowing“ mit kleinen Trippelschritten auf die Achtelschläge der Musik – ein Bewegungsgerüst, das sich als basso continuo durch die gesamte Performance zieht. Nach und nach kommen weitere Tänzer*innen hinzu, finden sich in unterschiedliche Formationen und Paarkonstellationen zusammen. Auf wundersame Weise erinnert das Trippeln an etwas Kindliches, wie etwa ein aufgezogenes Spielzeug, und rutscht zugleich durch das unaufhörliche Abspulen des Bewegungsmusters auch in etwas Gespenstisches. Ganz langsam und subtil werden die Bewegungen komplexer – eine isolierte Kopfbewegung, ein plötzlicher Körperakzent oder ein synkopisches Aufbrechen des monotonen Schrittrhythmus. Die Bewegungen des zehnköpfigen Ensembles werden raumgreifender, weicher und unisono ausgeführt und steigern bis zum Fadeout des Lichts fast unmerklich ihre Intensität. Das Ergebnis dieser fein gearbeiteten Choreografie ist ungemein wirkungsvoll: Es wird ein Sog kreiert, dessen man sich kaum entziehen kann.
„Wetland“ von Katharina Senzenberger
Als zweites künstlerisches Highlight bestach „Wetland“ von Katharina Senzenberger, das von Beginn an mitreißt. Zu intensivem Elektrobeat präsentieren sich die fünf Tänzer*innen dem Publikum in einer Bewegungssprache, die zwischen kraftvoll skulpturalen Posen und lasziven „Stripper-Moves“ oszilliert. Später dann die „Hauptattraktion“ des Abends, wenn während eines minutenlangen Kusses zweier Performer*innen Regen auf den weißen Bühnenboden sprüht. Mit vorsichtigen Bewegungen beginnen die Tänzer*innen, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden, bis es schließlich jemand wagt, im wahrsten Sinne des Wortes reibungslos von der einen auf die andere Seite zu gleiten: Der Tanzboden ist zum titelgebenden Wetland geworden, einer rutschigen, glitschigen Oberfläche, die sich stringent in den sexualisierten Kontext des Konzepts fügt. Was folgt ist energetisch, virtuos und einfach unglaublich schön. In sich stetig anreichernden Kombinationen rutschen die Tänzer*innen wie Eisläufer*innen über den Boden, drehen sich wie Turmspringer*innen zigmal um sich selbst, experimentieren mit symbiotischen Körperverwebungen und testen die Grenzen des Möglichen in dieser zweidimensionalen Choreografie aus. Immer riskanter und atemberaubender wird das, was die Tänzer*innen in ständig wechselnden Konstellationen miteinander ausprobieren, Wasser spritzt auf zum Beat von Britney Spears‘ „Gimme More“, und was am Ende dieses Energiefeuerwerks bei den Zuschauer*innen bleibt, ist ein großer Wunsch: Man möchte selbst mitmachen!
„The Garden Of Falling Sands“ von Yolanda Morales und „we ♥ 2 raqs“ von Tümay Kılınçel
Genauso wenig hält es das Publikum bei „The Garden of Falling Sands“ von Yolanda Morales auf den Sitzen. In einer spielerischen Choreografie nähert sie sich der nordmexikanischen Version des Cumbia-Tanzes und liefert in der anschließenden Lecture ein Best-Practice-Beispiel für die Arbeit mit Tanzstilen einer Subkultur: Sie lässt Expert*innen aus der Kultur auf die Bühne treten, über den Tanzstil sprechen und die Performance in einen breiteren Kontext einbetten.
Die Beschäftigung mit Bauchtanz in Tümay Kılınçels „we ♥ 2 raqs“ fällt hingegen jenseits der empowernden Qualität und interessanten Verbindung mit unterschiedlichen Tanzstilen ein wenig flach aus. Die versprochene Dekonstruktion orientalistischer Bildstrukturen bleibt – vielleicht auch aufgrund der nummernhaften Dramaturgie – unter der Oberfläche verborgen.
Und sonst so?
Die zum 30-jährigen Bestehen des wichtigsten Branchentreffens der deutschen Tanzszene zum ersten Mal von einem Stadttheater veranstaltete Ausgabe der Plattform konnte mit einigen künstlerischen Highlights glänzen. Die internationalen Fachbesucher*innen und das Freiburger Publikum sahen viele junge künstlerische Handschriften, die sich mit Tanzstilen aus unterschiedlichen Communities, mit Themen wie Inklusion und Queerness, aber auch mit popkulturellen Phänomenen auseinandersetzen. Auf ästhetischer Ebene waren zwei völlig konträre Setzungen festzustellen: auf der einen Seite ein Hang zu einer schnelllebigen, szenisch-fragmentarischen Dramaturgie, auf der anderen Seite der Versuch, langlebige Momente von Flow und Immersion zu kreieren.
Auch wenn sich nicht alle Freiburger Spielorte für die ausgewählten Produktionen als geeignet erwiesen und im Fall von Marga Alfeirãos „Lounge“ dessen intendierte Wirkung durch die Sichteinschränkung und Distanz zu den Performerinnen beinahe vollständig aufgehoben wurde, ist es den Veranstalter*innen im Vergleich zur Ausgabe in Berlin 2022 wieder gelungen, den Festivalcharakter der Tanzplattform herauszukehren. Bus-Shuttles und kurze Wege zwischen den Spielorten, Informationen für die Fachbesucher*innen rund um die Uhr, Tipps zur Verpflegung in der Stadt und zahlreiche Gelegenheiten für Austausch und Networking bei inspirierenden Diskussionsformaten und einer ausgelassenen Party sind hier nur einige Beispiele. Hellerau als Veranstalter der Tanzplattform 2026 hat sowohl in Bezug auf die programmatische Qualität als auch auf die Gastgeberschaft große Schuhe zu füllen.
(PS)
Einen haben wir noch:
Der Track des Festivals war ganz klar Gigi D'Agostinos 2022er Remix von „I’ll fly with you“ beziehungsweise „L’armour toujors“. Sowohl Moritz Ostruschnjak in „Terminal Beach“ als auch Katharina Senzenberger in „Wetland“ setzten auf die aufgepeppte Euro-Dance-Variante und verführten mit der eingängigen Melodie, dem griffigen Beat und dem Autotune-Gesang das Publikum zu wahren Begeisterungsstürmen.
(TI)
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