Großes Potential

Einmal alljährlich öffnet das Ernst Deutsch Theater in Hamburg, das eigentlich ein Sprechtheater ist, seine Pforten für den Nachwuchs aus der Ballettschule des Hamburg Ballett: Eine Woche lang zeigen dort, verteilt auf zwei Programme, die Schüler*innen aus der Theaterklasse VIII ihre zur Abschlussprüfung gehörigen ersten Choreografien. Bei der Präsentation konnten sie dabei neben den eigenen Klassenkamerad*innen auch die Mitglieder der Theaterklasse VII einsetzen. Und sie waren für alles selbst verantwortlich: nicht nur für die Choreografie, sondern auch für Musikauswahl, Kostüme, Bühne und Licht (beraten von Stacey Denham und unterstützt von weiteren Fachleuten des Hamburg Ballett und des Ernst Deutsch Theaters). 

Insgesamt 33 kurze Stücke waren zu sehen, darunter auch drei Arbeiten aus Klasse VII. Einmal mehr war hier die fruchtbare Arbeit der Schule zu erkennen – das Niveau der gezeigten Tanzkompositionen war beachtlich. Da wundert man sich nicht mehr, dass einzelne Schüler*innen bereits dreimal beim „Young Creation Award“ des Prix de Lausanne reüssieren konnten: 2021 Samuel Winkler mit „Suppress“, 2022 Milla Loock mit „Cognition“, 2024 Quinn Bates mit „Groovin‘“. 

Jede*r Absolvent*in hatte seinem Stück ein bestimmtes Motto vorangestellt. Die darin erkennbare Vielfalt der Themen zeigte, was die Jugendlichen heute umtreibt: Da ging es um den Blick hinter die Fassaden einer Persönlichkeit, um die unterschiedliche Herkunft und den Tanz als universelle Sprache, um große Gefühle, Identität, Erinnerungen, Selbstzweifel, Impulse, Wünsche, Selbstvertrauen, Gegenwart und Zukunft, das Überwinden von Schwierigkeiten, Resilienz, Lebensfreude, Mut, Hoffnung, Freiheit, ein wachsames Körpergefühl, und auch aktuelle Themen wie Künstliche Intelligenz wurden bearbeitet. 

Einige Arbeiten stachen besonders heraus. Zum Beispiel „Under Pressure“ von Melissa Koivuaho aus der Theaterklasse VII, ein großartiges Solo, das Jacqueline Lane souverän auf die Bühne brachte. Nicht minder beeindruckend „Das Ende ist der Anfang“ von Eleftherios Efthimios Sarafis, der seinen fünf Tänzer*innen knallrote Socken, knallrote Lippen und mehrlagige Röcke verpasst hatte, vor allem aber choreografisch überzeugte. Das gilt auch für sein zweites Stück „Brusk“, ein Solo für Pilar Cardozo, die die darin versteckten Anforderungen virtuos meisterte. Sehr witzig gestaltete Kohana Williams „Bounce“, ein Stück über die Begeisterung für die Gegenwart und Freude für die Zukunft: „Wie ein Pingpong-Ball ständig in Bewegung blicken wir vorfreudig auf die Zukunft“, so ihr Statement dazu. Anspruchsvoll auch Quinn Bates‘ „Ouroboros“, dem kreisförmigen Symbol für den ewigen Kreislauf von Zerstörung und Wiedergeburt. Acht Mitschüler*innen gruppiert der diesjährige Gewinner des „Young Creation Award“ hier gekonnt zu einem auch tänzerisch anspruchsvollen Werk. Witzig der Einfall von Oscar Flight, seinem Namen entsprechend das Warten auf einen verspäteten Flug zu thematisieren – choreografisch fliegt das am Ende allerdings dann doch etwas auseinander. 

Beachtlich auch „El Aguia entiende“ von Pilar Cardozo, wo sich eine Tänzerin einen Eimer Wasser über den Kopf kippt und die Mittänzer*innen anschließend gekonnt über die Pfützen auf der Bühne glitschen lässt. Oder „El Boraro“ von Tiziano Botteri: „Eine Kreatur, die durch den Amazonaswald läuft, zerstört das Innere ihrer Opfer, während das Äußere makellos bleibt“, wie es in seinem Statement heißt – ein Sinnbild für vieles, was man so im ganz normalen Leben erfahren kann. 

Die Schule kann stolz sein auf diese Absolvent*innen, die sicher ihren Weg machen werden in der Welt des Tanzes.