„SOMNOLE“ von Boris Charmatz

Unerwartetes Requiem

„Nahaufnahme Boris Charmatz“, herausgegeben von Marietta Piekenbrock

Ein Buch zum Ende? So jedenfalls scheint es bei „Nahaufnahme Boris Charmatz“ - Hrsg. von Marietta Piekenbrock, dem Tanztheater Pina Bausch und Terrain Boris Charmatz. Fazit statt Bestandsaufnahme. Dennoch zeichnet das Buch auf 318 Seiten ein lebendiges Bild des Künstlers.

Wuppertal, 18/03/2025

Das letzte Stück in diesem Band ist „Cercles“ von 2024. Boris Charmatz hat es für des Festival Avignon geschaffen und dann auch in Wuppertal aufgeführt. Laien tanzen hier mit Profis Kreistänze, ein Event, das Menschen über den Tanz zusammenbringt und hier auch über die deutsch-französische Grenze. Produzenten sind das Tanztheater Pina Bausch und Terrain Boris Charmatz, erschienen ist es im Alexander Verlag. Zwei Strukturen, zwei Beine, viele Ideen, vielleicht zu viele von allem. Boris Charmatz wird mittlerweile das Tanztheater Pina Bausch zum Sommer verlassen und dieses 318 Seiten schwere Dokument, das eigentlich nur eine überfällige Bestandsaufnahme werden sollte, ist zu einem Schlussstein der Arbeit in Wuppertal geworden. Umso schöner, solch einen Überblick in den Händen zu halten, auch wenn er natürlich seine aktuelle Brisanz verloren hat. Denn das Kapitel zu Wuppertal, das mit dem Text „Für eine neue Vision“ beginnt, ist jetzt genauso historisch und abgeschlossen wie der Rest der Projekte (auch wenn einige immer noch getanzt werden). In diesem Text schreibt Charmatz, der Pina Bausch nie getroffen hat, man müsse auch Dinge loslassen, um Gesten zu entwickeln, die von Bedeutung seien. Sein Fokus liege auf Gegenwart und Zukunft. Vielleicht zuviel für Wuppertal.

Deutsch-französische Tanzwege

Streng chronologisch nach Stücken versammelt Kuratorin Marietta Piekenbrock, die bereits lange auch künstlerisch mit Charmatz zusammenarbeitet, Material zum künstlerischen Schaffensweg des Choreografen. Da sind etwa die Notes de travail zu den einzelnen Stücken, die bereits auf Charmatz’ Website zu finden waren, es gibt Kritiken, Essays und Interviews – beispielsweise Gespräche von Charmatz mit Piekenbrock und Gilles Amalvi, zwei längeren Wegbegleiter*innen – sowie Einblicke in Positionen von Tino Seghal, Raimund Hoghe und Jérômel Bel (hier ist ein E-Mail-Austausch). Allerdings ist nur wenig davon exklusives Material für den nun vorliegenden Band. Vielmehr sammelt und kuratiert Piekenbrock Verstreutes aus dem Archiv, versucht es zu editieren und mit erklärenden erhellenden Fußnoten zu versehen, aber ohne das Material selbst zu kommentieren.

So lohnt ein Stromern und Streunern durch das vielfältige Material auf den 320 Seiten, beginnend mit der Association edna, den Versuchen und Stücken rund um das Musée de la Danse, zu dem Charmatz das Centre Choréographique in Rennes erklärt hatte, sein Arbeitszusammenhang Terrain und schließlich abschließend die Zeit beim Tanztheater Pina Pausch. Alles in vielen Texten und Textchen und natürlich Bildern, Bildern, Bildern. Sogar Videos, alle von César Vayssié, versammelt der Band als Tanz+: Zu „Les Disparates“ (1994), „Levée des conflits“ (2010), „Tanzgrund“ (2021), „Transept“ (2021), „Dans gâchée dans l’herbe“ (2023) und „Wundertal“ (2023) gibt es QR-Codes zu etwa dreiminütigen Videoclips zu den Stücken. Das Charmatzsche Konzept des Museums des Tanzes findet seine Erweiterung in den digitalen Raum. Zugleich gibt es zu allen Stücken ein ausführliches Datenblatt mit den Namen der Tänzer*innen, die es gestern und heute tanzen und natürlich den üblichen künstlerischen Credits.

Menschen und Räume im Blick

Wobei es gerade der Gang durch die Konzepte und Ideen sind, die es sich in diesem Buch nachzuverfolgen lohnt. „Der Mensch ist ein Tier, das sich tanzend erinnert“, heißt es gleich zu Beginn und trotz seiner Soloarbeiten, ist man geneigt zu ergänzen, ein Rudeltier. Dieser Mensch, der tanzt, der in Gruppen tanzt, ganz gleich von welchem Ausbildungsstand, das ist etwas das sich durch die Arbeiten durchzieht. Von dem ersten Duett „À-bras-le-corps“, das er im Alter von 20 Jahren mit Dimitri Chamblas entwickelte und bis heute mit ihm tanzt, über „Herses (a short introduction) bis hin zu seinen Interventionen mit Laien, die am Musée de la Danse begannen und etwa in „Cercles“ mit dem Pina Bausch Theater in Avignon und Wuppertal zu erleben waren. Zudem faszinieren ihn Räume und wie sie wirken können: „Lassen wir die Räume leer und und von den Gedanken leiten.“ Schon sein Debut verzichtet ganz auf einen Bühnenraum. In „Att enen tionon“ lässt er Tänzer*innen auf drei Ebenen in einem Stahlgerüst tanzen, ohne dass sie einander sehen können. Auch hier tanzt Charmatz zur Uraufführung selbst. Immer wieder treibt es ihn in neue Räume, Stadträume, Freiräume, Kirchen, ebenso wie in Museen, etwa die Tate Modern in London.

So entsteht im Kaleidoskop der Texte und Bilder, das Bild eines Tanzbegeisterten und seiner Ideen, der vor allem Eines will: Menschen begeistern für und mit Tanz. Wo er das in Zukunft tun wird, bleibt derweil offen.

Nahaufnahme Boris Charmatz“, herausgegeben von Marietta Piekenbrock, Tanztheater Pina Bausch und Terrain Boris Charmatz, 318 Seiten, Alexander Verlag, 2023, 25,00 Euro

 

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