Nun schlägst's 13!
Halle feiert sein Ballett Rossa mit einer Gala, die das Beste aus den vergangenen 13 Jahren zeigt
Es ist reiner Zufall: Vor wenigen Tagen wurde Nanine Linnings Stück „Hieronymus B.“ aus dem Jahr 2015 in Osnabrück neu auf die Bühne gebracht. Genau dieses Stück war in der Oper Halle bereits 2019 zu erleben. Jetzt kehrt Linning mit „Dusk“ aus dem Jahr 2017 nach Halle zurück und zeigt damit, wie es schon zur Uraufführung hieß, ihr persönlichstes Stück.
Die Abenddämmerung aus dem Titel ist hier das langsame Vergehen eines Lebens, das Verschwinden auch der letzten Dinge. Um das zeigen zu können, unterteilt die holländische Choreografin ihre Arbeit in drei Abschnitte und beginnt in der Mitte des Lebens. Die zeigt sie als Phase, in der Kraft und Vitalität das Leben bestimmen. Das ist ein Zustand, der das Ensemble nach vorn drängen lässt. Als geschlossene Gemeinschaft stehen sie dicht beieinander auf der spärlich beleuchteten Bühne, zittern vor Energie, stampfen immer wieder mit den Füßen auf und greifen damit die ersten, flirrenden Streicherklänge von John Adams‘ „Shaker Loops“ auf. Immer deutlicher kommt es zu individuellen Ausbrüchen in Form von Zuckungen, wobei alle auf einen gemeinsamen Punkt fokussiert scheinen.
Die russische Kostümdesignerin Irina Shaposhnikova hat die Tänzerinnen und Tänzer dafür in eine Art weichen, leicht fließende, kurze Stachelkleider gesteckt, der die Assoziation zu Mikroorganismen zulässt. Die Organik, die in den Bewegungen entsteht, wenn sich diese „Stacheln“ leicht aufrichten, erinnert ein bisschen an die Entwürfe von Iris van Herpen. Offen bleibt, wie sich diese nicht ganz menschliche Wirkung mit den nur zu menschlichen beiden folgenden Teilen verbinden will. Dieser erste Teil konzentriert sich auf das Miteinander, das verbunden Sein miteinander. Der dramaturgische Übergang zum zweiten Teil mit Arvo Pärts „Con Sublimatá“ ist zwar deutlich wahrnehmbar gestaltet, aber ohne einen Bruch in der Entwicklung zu bringen.
Reduktion auf ein Minimum
In dieser Entwicklung hin zum Ende im doppelten Sinn sind die Kostüme jetzt nichts mehr als hautfarbene Bodys. Schon zur Uraufführung hieß es über „Dusk“, Linning hätte hier alles auf ein Minimum reduziert. Das gilt auch für die leere Bühne.
So wenig im ersten Teil von Vergehen zu spüren ist, so deutlich wird das nahende Ende im zweiten. Vor einem jetzt hellen, einfarbigen Hintergrund reihen sich mehrere Soli aneinander. Die Formensprache Linnings wird hier deutlich komplexer, raumgreifender und spürbar reflektierend. In sich gekehrt wirkt der Ausdruck, trotz aller Größe und Länge in den Gesten.
Wenn man meint, der Pulk aus dem ersten Teil kehre zurück, zeigt sich, dass es in dieser Entwicklung kein Zurück gibt: Das Ensemble trägt jetzt zwar ähnliche Kostüme, die aber wie „gealtert“ wirken. Die Stacheln sind durch lose hängende Streifen ersetzt. Auch hier ein Verblühen, ein Nachlassen der Kräfte. Die zwangsläufig elegische Stimmung übernimmt im dritten Teil Gustav Mahler mit dem „Adagio“ aus der 9. Sinfonie. Linning lässt die Tänzerinnen und Tänzer in Gruppen zu viert und zu fünft auftreten und ein leises Wehen zeigen, in dem die Einzelnen wanken, fallen und gestützt werden. Währenddessen öffnet sich der Horizont zu einem Blick ins Jenseits. Hinter einer semitransparenten Wand entsteht eine sich beständig wandelnde Landschaft aus Licht und Bühnennebel, in dem schemenhaft einzelne Menschen eher erahnt als gesehen werden können. Bei aller Sanftheit hat das eine immens betörende, überirdische Wirkung, die heute meistens durch Videoprojektionen gestaltet wird. Diese äußerst gelungene Bildgebung ist ein kleiner Verweis darauf, wie aufwendig und multidisziplinär Linnings Arbeiten sonst oft ausfallen.
Bei aller Transzendenz scheint doch immer wieder die Lust am Leben durch, ein fast wütendes, verzweifeltes Festhalten am Sein. Diese Verzweiflung mischt sich auch mit Einsamkeit, wenn ein einzelner Tänzer mit dem Rücken zum Publikum reglos auf dem Boden sitzt. Es ist die gesamte Bandbreite der Gefühle, die Linning zulässt. Sie schafft es bei aller Tragik, keinen Moment in den Kitsch umzukippen. Eben weil alle Gefühle ihren Raum erhalten, ist das Ende nur noch ein einzelner Schritt, der dann willkommen ist.
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