Krieg zwischen Amazonen und Hyänen
„Voice over“, Nanine Linnings letzte Choreografie für Osnabrück
In drei Stationen, zu denen das in drei Gruppen aufgeteilte Publikum innerhalb des Theaters von einem Spielort zum andern wandern muss, setzt sich Choreografin Nanine Linning, gefeierte Tanzchefin in Osnabrück von 2009 bis 2012, mit der mittelalterlichen Bildwelt des holländischen Malers Hieronymus Bosch (1450 – 1516) auseinander. Boschs Zeit der Umbrüche ähnelt in vielerlei Hinsicht der von heute, und seine Themen sind die ewig unausrottbaren Sünden der Menschheit, denen er sich in tausenderlei fantastischen Formen gewidmet hat.
Himmel und Hölle
Bosch erzählt auf seinen meist dreiteiligen Gemälden ganze Bildergeschichten von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies über seinen Weg in der Welt bis zur Hölle. In Bezug darauf nimmt Linning einzelne Figuren Boschs auf, erweckt sie zu bewegtem Leben und führt sie in die Welt zurück. Dabei tanzen die Menschen-Darsteller – anders als die Teufel und bizarren Mischwesen – wie ‚nackt‘ in fleischfarbenen Trikots.
Eine Station, die mittelalterliches Zeitgefühl vermitteln mag, ist das obere Foyer des Theaters. Auf einem kaum erhöhten Podest ist ein kleines Streichorchester um ein Cembalo versammelt. Es spielt mittelalterliche Musik, zu der die Mezzosopranistin Amira Elmadfa einen lateinischen Text singt, während sie von einem geharnischten Mischwesen mit Fischkopf und Sense umtanzt wird und ein roter Teufel umherstreicht.
Eine nächste Station ist die Hauptbühne. Dort führen sieben von Les Deux Garçons Bosch getreu nachgebauten Vitrinen und als Triptychon gestalteten Altäre, in die Bilderwelt Boschs ein. Aber mitfühlend befreit Linning in der Bewegung Boschs Figuren aus dem Schicksal, das dieser für sie festgeschrieben hat. Sie werden ambivalent wie die Schöne, die zwar verdächtig auf einem Fass sitzt, aber nicht wollüstig, sondern verführerisch lockt. Und programmatisch windet sich eine Tänzerin durch die Saiten einer Harfe – die sie bei Bosch noch in der Hölle marternd durchtrennen – aus ihrem Gefängnis und vereinigt sich mit anderen Tanzenden. Auch die Tänzerin, die eben noch von einer höllischen Kröte züngelnd bedroht wurde, lernt das Untier als harmlos und als Reittier tauglich zu erkennen.
Ambivalenz der Welt
Dann treibt ein Tänzer, der in einem Narren-Schiff steckt, die Gruppe der Zuschauer ins Parkett, wo kurze getanzte Szenen mit Bosch-Figuren und Videos eindringlich die Ambivalenz der Welt und die Notwendigkeit, mitfühlend human über sie zu urteilen, deutlich machen: Der harmlose Esser eines Granatapfels sieht jedoch mit seinen blutroten Zähnen so bedrohlich aus, als könnte er auch gerade ein menschliches Herz zerfleischen.
Wenn sich schließlich alle drei Gruppen im Zuschauerraum zusammenfinden, wird in einer längeren Szene Linnings eigenständige, feministisch-humanistische Position vollends deutlich. Vom Fuß eines kahlen Baumes erhebt sich das Ensemble. Es lässt noch einmal dramatisch die Todsünden in Gesten animalischer Lust und verbissener Gier, aber auch tiefer Schuld und gedrückter Reue anklingen, während Seufzer in der Musik von Michiel Jansen hörbar werden. Als die Frauen sich aufreihen und – sich an den Händen haltend – ihre gemeinsame Kraft entdecken, können sie sich nicht nur von den Vogelkäfigen befreien, die ihnen von Männern über die Köpfe gestülpt wurden. Da schweben verlockend Himmelsleitern vom Schnürboden herunter, die für alle den Aufstieg ins himmlische Paradies als möglich erscheinen lassen. Doch die Himmelstürmer brechen ihren Aufstieg ab; sie wenden ihre Aufmerksamkeit einem Menschenpaar zu, das in liebevoller Eintracht auf einem großen Paradies-Apfel mit vielversprechend großer Blüte auf die Bühne fährt. Als würde die Vertreibung aus dem Paradies zurückgenommen werden, weist final ein Engel auf das Paar, auf den in der Welt zu erlösenden Menschen.
Nanine Linning macht es dem Publikum nicht leicht, ihrer feministisch-humanistischen Position auf den drei Wegen durch Boschs Bildwelten und darüber hinaus zu folgen. Man sollte Boschs Figuren kennen, sie aber auch loslassen können, um zu erfahren, warum sie sich bei Linning anders bewegen. Sonst bieten sie – wie die Bühne und die Kostüme – nur dessen pittoresk-bizarre Oberfläche dar.
Der Schlussbeifall nach etwa zweieinhalb Stunden fiel als freundliche Begrüßung für Nanine Linning, aber nicht enthusiastisch aus. Er galt vor allem der beeindruckenden Leistung der Dance Company mit Jeongmin Kim, Barbara Minacori, Marine Sanchez Egasse, Emelie Söderström, Emanuela Vurro, Esaúl Llopis Caselló, Richard Nagy, Angelo Minacori, Ada Hold, Arkadiusz Hryb, David Tengblad und des Osnabrücker Symphonieorchesters unter Anhon Song. Der bei Tanzpremieren sonst obligatorische Trampelbeifall fiel aus.
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