„Noice/Noise“ von Paula Rosolen / Haptic Hide

Spiegelbilder, Sinnestäuschungen

„Noice/Noise“ von Paula Rosolen / Haptic Hide im Mousonturm Frankfurt

Ein Experiment mit Dazzle-Camouflage und Musique Concrète, das dem Konzept des Futurismus nachlauscht

Frankfurt, 23/03/2025

Der Mensch hat fünf Sinne, kann sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, und trotzdem nimmt er fast 80 Prozent seiner Umgebung allein über die Augen wahr, elf Prozent über die Ohren, die restlichen neun Prozent verteilen sich auf Tast-, Geruch- und Geschmacksinn. In „Noice/Noise“, koproduziert mit dem Künstler*innenhaus Mousonturm im Rahmen der Tanzplattform Rhein-Main und Otto Productions, thematisiert die aus Argentinien stammende Choreografin Paula Rosolen die akustische Reizüberflutung (Konzept: Rosolen und J.M. Fiebelkorn) mit einem Team aus Technikern und drei Tänzer*innen. Ein White Cube umrahmt die Tanzperformance.

Rosolen warnt im Programmheft vor „lauter bis sehr lauter Musik, Störgeräuschen und sich wiederholenden, lauten Geräuschen“, lässt am Eingang Ohrstöpsel verteilen, alles Hinweise, die die Aufmerksamkeit der Besucher zunächst aufs Gehör richten. Auch zu Beginn setzen der Musiker Nicolas Fehr und der Toningenieur/Videomacher Mauro Zannoli akustische Marken, die einen weit größeren Raum suggerieren. Im Verlauf der Tanzperformance gibt es zwei oder drei Ausreißer in höhere Dezibel – insgesamt bleiben die Höreindrücke jedoch erfreulich moderat, und der befürchtete Radau, Krach, Lärm oder was sonst noch unter „Noise“ fällt, bleibt aus. 

Vielmehr werden, wie einst bei der Musique Concrète, Alltagsgeräusche als Rohmaterial benutzt. Ein Klangpanorama aus urbanem Sound, undefinierbarem Rauschen, elektronisch verfremdeter Musik, harten Rhythmen und schreiender Stille. Das menschliche Ohr ist zwar enorm rezeptiv, schnell und tolerant, es nimmt wahr, ordnet sich aber dem Auge unter.

Schwarz-Weiß-Kontraste

Optisch setzt das Konzept auf Schwarz-Weiß-Kontraste. Das Bühnendesign (Videoprojektionen: Zannoli, Licht: Jimmy Kömpel) projiziert sogenannte Dazzle-Camouflage an die Wände. Diese Muster wurden Anfang des vorigen Jahrhunderts im Ersten Weltkrieg auf Militärgeräten und Schiffen angebracht. Statt durch Tarnung unsichtbar zu werden, sollte die sogenannte Blendtarnung räumlich irritieren, um die Treffsicherheit herabzusetzen. 

Auch die retro-futuristischen Kostüme von Anika Alischewski und J.M. Fiebelkorn erinnern an die Aufbruchstimmung der italienischen Künstler-Avantgarde am Anfang des 20. Jahrhunderts. Das futuristische Manifest des italienischen Dichters Filippo Tommaso Marinetti war als provokativer Tabubruch konzipiert: Jugend, Gewalt, Aggressivität, Geschwindigkeit, Krieg und Rücksichtslosigkeit wurden verherrlicht und den etablierten Kulturträgern der Kampf angesagt.

„Die italienischen Künstler waren stets von der Idee gelähmt, nur die Nachkommen eines nunmehr verschwundenen Ruhms zu sein. Gegen diese Zwangsvorstellung von der unerreichbaren Vergangenheit verkündete Marinetti, dass sich eine neue Welt ankündige, und dass Italien jetzt seinen jahrhundertealten Ruhm zu Grabe tragen und vom Gewicht seiner herrlichen Vergangenheit befreien müsse.“, so der Kunsthistoriker Giovanni Lista in seiner Publikation „Was ist Futurismus?“

Interdisziplinäres Zusammenspiel 

Je massiver rechts-faschistische Bewegungen an die Macht drängen, desto berechtigter die Frage: „Zukunftsmusik oder Schnee von gestern? Interdisziplinarität, Internationalität und Aktualität des Futurismus“, Tagungsthema 2009 im Italienischen Kulturinstitut Köln. Ob und was der zeitgenössische Tanz zur Problematik beitragen kann, bleibt offen. Eine an Durchlässigkeit, Subtilität und Vielseitigkeit bewundernswerte Piaera Lauritz, ein kraftvolles Bewegungstier wie Ted Littlemore und ein witzig dynamischer Daniel Conant, die, jeder für sich auch künstlerisch eigenständig produktiv ist – Lauritz choreografiert und macht Filme, Littlemore als Drag-Personality und Conant, quasi ein Überflieger, verfügt über Techniken von Breaking über Ballroom bis Schuhplattlern. 

Internationalität ist im Tanz kein Thema, es geht also mehr ums interdisziplinäre Zusammenspiel, bei dem die (choreografische) Lust am Experiment und die solistischen Qualitäten dem Konzept zugutekommen. Nicht zuletzt durch den Spiegel, der die gesamte Tanzfläche ausfüllt: Die Semantik der Spiegelung reicht vom narzisstischen Selbst bis zum reflektierten Denken. Die Ästhetik fasziniert, weil jedes Solo durch die Spiegelung zum Duo, jedes Duett zum Quartett und jedes Trio zum Sextett wird. You never dance alone ...

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