„Témoin“ von Saïdo Lehlouh 

Düstere Vereinsamung

„Témoin“ von Saïdo Lehlouh beim Hamburger Sommerfestival

Der französische Tänzer und Choreograf ist bekannt dafür, Streetdance und Breaking nahtlos mit anderen Tanzstilen zu vereinen. Sein neues Werk wird dem hohen Anspruch leider nicht gerecht.

Hamburg, 18/08/2024

Dissonante, fast kreischende Klänge (Komposition: Mackenzy Bergile) strömen aus den Lautsprechern, wenn sich der Vorhang öffnet. Eine Gruppe von 20 Tänzer*innen steht oder sitzt in Straßenkleidung (Kostüme: Lydie Tarragon) auf der nur sparsam beleuchteten, nebelverschleierten Bühne (Lichtdesign: Tom Visser), den Blick nach rechts gerichtet. Einer löst sich und beginnt sich zu bewegen – mit schlangenartigen Armen und weichen, nachgiebigen Beinen umkurvt er die Gruppe, die ihn jedoch weitgehend ignoriert. Langsam nur rücken einzelne vor, erheben sich vom Boden und beginnen ebenfalls, sich mit eigenen Moves zu beteiligen. Kaum jemand ist da in Kontakt mit dem anderen, die meisten agieren unabhängig voneinander, jede*r für sich.

Und so geht das gut 70 Minuten lang. Immer mal wieder kommt es zu kurzen tänzerischen Dialogen, löst sich jemand aus dem Verband, versucht, jemand anderes zum Tanz zu animieren, mal gelingt das, mal schlägt es fehl. Einzelne jagen anderen hinterher, ohne sie doch wirklich zu erreichen. Zwischendurch verschwindet die Gruppe im Hintergrunddunkel, die Masse taucht unter, während einzelne ihre Virtuosität im Breaking oder Hip-Hop und anderen Streetdance-Stilen unter Beweis stellen. Und doch bleibt jeder in seiner Einsamkeit gefangen, umhüllt vom Nebel und der Düsternis der Bühne.

Tänzerinnen und Tänzer unterfordert

Diese wenigen Soli sind die eigentlichen Höhepunkte des Abends. Aufgrund der Kürze ihrer Auftritte bleiben sie jedoch nur Spotlights, die Künstler*innen können hier nicht wirklich zeigen, was sie draufhaben. Zum Schluss ziehen sie sich nacheinander von der Bühne zurück, auf der ein Mann noch kreiselnde Bewegungen macht. Sie gehen langsam die Tribünengänge auf der K6 empor und bleiben dort und ebenso am Bühnenrand in größeren Abständen stehen, um jetzt das Auditorium in den Blick zu nehmen. „Témoin“ = Zeuge, das meint wohl auch dies: Die Zeugenschaft liegt nicht nur bei den Zuschauerinnen und Zuschauern, sondern ebenso bei den Tänzer*innen, die zu Zeug*innen des Publikums werden.

„Ich wollte untersuchen, auf welche Weise Gemeinschaften innerhalb von Menschenansammlungen gebildet werden können, als Dringlichkeit oder Zirkulation, und wie das Heran- und Herauszoomen die Persönlichkeit und die individuellen Charakterzüge der Tänzer*innen hervorbringen kann“, sagt Saïdo Lehlouh in einem schon im September 2022 geführten Interview, das im Programmzettel abgedruckt ist. Es wäre interessant gewesen zu wissen, ob sich diese Beschreibung im Lauf der zwei Folgejahre geändert hat.

Denn das Manko dieser neuen Kreation von Lehlouh besteht gerade darin, dass „die Persönlichkeiten und individuellen Charakterzüge“ viel zu kurz kommen. Diese 20 Tänzer*innen können so viel mehr, als man zu sehen bekommt. Es lässt sich nur ahnen, was man mit diesen wahren Meister*innen ihres Fachs auf der Bühne eigentlich hätte entfesseln können. So aber bleibt es in seiner bleiernen Eintönigkeit ermüdend redundant und hinterlässt in Kombination mit der nur von wenigen einzelnen Scheinwerfern durchbrochenen bleiernen Düsternis der Bühne ein lähmendes Gefühl der Vereinsamung. Schade.

 

Hinweis der Redaktion: Die hier verwendeten Pressefotos stammen nicht aus der Kampnagel-Aufführung, sondern sind Probenfotos vom 31. Januar 2024 (1-3) bzw. April 2023.

 

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