Demis Volpi

Demis Volpi

„Das Bisherige weiterdenken“

Der Choreograf: Ein Gespräch mit dem neuen Hamburger Ballett-Intendanten Demis Volpi

Seit dem 1. August 2024 ist der 38-Jährige der Nachfolger von John Neumeier in der Hansestadt. Annette Bopp sprach mit ihm über seine Pläne.

Hamburg, 03/09/2024

Es ist eine Zäsur, wie es sie in der Tanzwelt so noch nie gegeben hat: Nach 51 Jahren John Neumeier übernahm jetzt zur Spielzeit 2024/25 Demis Volpi – zuvor Ballettdirektor und Chefchoreograf beim Ballett am Rhein – die Leitung der weltberühmten Kompanie. Mit Annette Bopp sprach er über seine Pläne und über das Programm seiner ersten Saison, das sich durch eine für Hamburg ungewohnte choreografische Vielfalt auszeichnet. Das exklusive Gespräch auf tanznetz wird sich in zwei Teile gliedern: Den ersten, hier veröffentlichten Teil, der sich vor allem dem Choreografen Demis Volpi widmet, und einen zweiten Teil, der das Programm der aktuellen Spielzeit vorstellt und Einblicke in diese neue Ära gibt:

Wie fühlt es sich an, in Hamburg jetzt diese Aufgabe zu übernehmen? Sind Sie schon richtig angekommen? 

Ich muss sagen, jetzt, wo ich meinen Abschied in Düsseldorf hinter mir habe, fühlt es sich richtig, richtig gut an. Bis dahin war es schwieriger, weil der Geschmack von Abschied für mich sehr präsent war. Aber jetzt merke ich die Veränderung. Ich freue mich richtig auf die Zeit in Hamburg. Natürlich wird es eine Herausforderung – es ist eine neue Zeit für alle, sowohl für das Publikum wie für die Menschen im Haus. Das ist immer mit Anpassungen und Veränderungen verbunden. Wir müssen uns da alle erstmal finden. Aber ich glaube, es wird eine tolle Zeit – auch auf der zwischenmenschlichen Ebene. Viele hier sind sehr neugierig und offen, und sie haben viel zu geben. Gleichermaßen wird es auf der künstlerischen Ebene eine äußerst spannende Zeit. Das Hamburg Ballett ist ein Ensemble mit enormen Fähigkeiten und Möglichkeiten, und es wird extrem interessant sein, dieses Ensemble jetzt mit neuen Choreograf*innen zu konfrontieren. Ich bin da sehr gespannt und voller Vorfreude. 

Sie beginnen die Spielzeit am 15. September mit einer Ballett-Werkstatt, noch vor der ersten Premiere. Warum? Was wird das Thema sein? 

Mein Wunsch für die Ballett-Werkstätten ist es, für das Publikum Einblicke in die vielfältigen Tanzsprachen der Künstler*innen zu schaffen. In dieser Spielzeit sind insgesamt acht unterschiedliche Choreograf*innen in unserem Programm, und da finde ich einen ersten Eindruck in Form einer Ballett-Werkstatt einen schönen Auftakt. Am Abend zuvor nehmen wir als Hamburg Ballett auch an der 20. Hamburger Theaternacht teil, wir sind auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper zu sehen, und die Ballettschule präsentiert ein spannendes Programm im Ballettzentrum in Hamm. Das ist ein wunderbarer Start in die Saison!

In der Vergangenheit haben Sie einige Kreationen gemacht, die ziemlich düster waren: „Krabat“ und „Salome“ für das Stuttgarter Ballett, „Herzog Blaubarts Burg“ für das Ballett am Rhein. Haben Sie ein Faible für das Düstere? 

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht! (Lacht) … Es waren Stücke, die mir seinerzeit begegnet sind, aus unterschiedlichen Gründen, und die ich dann machen wollte. 

Haben sie etwas gemeinsam? 

Ich hoffe es! Sie setzen sich alle mit der menschlichen Seele und Psyche auseinander. Das ist der Grund, weshalb ich mich für diese Stoffe entschieden habe, was mich daran interessiert. Ich suche sie nicht aus, weil sie düster sind. 

Der erste Kreationsmoment

Sie werden im Sommer 2025 mit „Demian“ nach der Erzählung von Hermann Hesse ein erstes abendfüllendes Ballett für das Hamburg Ballett kreieren. So ein ganz neues großes Werk ist ja immer etwas Besonderes. Wie geht es Ihnen dabei? 

Bei einer neuen Kreation braucht es nicht nur von den Tänzer*innen, sondern auch von der Choreografin oder dem Choreografen den Mut, im Ballettsaal zu stehen und sich zu zeigen, wie man ist. Im übertragenen Sinne muss man sich nackt machen: Man steht vor einem Kollektiv, es gibt kein Netz und keinen doppelten Boden. Man ist allein. Das zuzulassen, ist sehr schwer. Es erfordert ein enormes Maß an Mut. Gerade, wenn man auch noch Direktor ist und immer wieder mal Grenzen aufzeigen muss. Man muss sich dann trotzdem als Mensch in seiner Zerbrechlichkeit und Angreifbarkeit hinstellen, sich zeigen und sagen: Das bin ich, das ist das, was ich fühle und denke, und jetzt probieren wir das im Tanz aus. Das ist sehr schwer und die Angst vor diesem Moment ist schier unerträglich. 

Ist das immer so?

Bei mir zumindest. Und soweit ich weiß, kennen alle Kreativen diese Angst. Mein allererstes Stück bei der Noverre-Gesellschaft in Stuttgart 2006 war „on and on and on“, ein Pas de Deux. Ich habe das Stück so oft abgesagt, dass mich Rainer Woysiek, der damalige Vorsitzende der Noverre-Gesellschaft, irgendwann ins Studio begleitet hat. Er hat die Tür hinter mir zugemacht und gesagt: „Du kommst da erst wieder raus, wenn Du eine Bewegungsfolge von mindestens einer Minute erstellt hast.“ Dann war ich allein mit der Tänzerin und dem Tänzer. Irgendwie hat das tatsächlich funktioniert. Aber bis zur Aufführung habe ich immer wieder gesagt: Nein, wir zeigen es doch nicht, wir lassen es lieber sein. Angelina Zuccharini und Alexander Jones, die den Pas de Deux tanzten, sagten nur: „Demis, Du kannst gerne abspringen, aber wir werden es trotzdem tanzen …“ Das fand ich schön. Der Prozess hatte eine eigene Dynamik bekommen. 

Haben Sie die Angst jetzt überwunden? 

Nein, aber ich habe gelernt, mich ihr zu stellen. Diese Angst ist allerdings der Grund, warum ich kein Schriftsteller geworden bin. Obwohl ich wirklich gern schreibe, bringe ich selten etwas zu Ende, aus Angst davor, dass es jemand liest. Vorher werfe ich es lieber weg ... Das geht als Choreograf nicht – andere Menschen haben ja auch Arbeit und Zeit in die Werke hineininvestiert. 

Vor vielen Jahren schon, als ich hier in Hamburg „Karneval der Tiere“ mit der Ballettschule einstudierte, habe ich mit John Neumeier einmal über diese Angst gesprochen. Ich fragte ihn, wie er sie überwindet, wenn er ein neues Stück beginnt, oder ob er inzwischen vielleicht gar nicht mehr in Panik verfällt. Er schaute mich total überrascht an und sagte: „Das wird doch immer nur schlimmer …“ Und er hat recht. Je tiefer man geht in der eigenen Arbeit, je länger sie andauert, desto größer wird die Angst, desto mehr muss man sich trauen. Aber das macht die Herausforderung aus. 

Hilft dabei die Lebenserfahrung? 

Nicht wirklich. Jeder künstlerische Prozess verläuft unabhängig von allem anderen. So erlebe ich es zumindest. Wenn ich in den Ballettsaal gehe, muss ich alles andere liegenlassen, denn es geht immer um das, was jetzt gerade stattfindet. Um das Anfangen im leeren Raum, ohne alles. Wo dieser Zündfunke entstehen muss, damit eine Flamme aufgeht. Das ist jedes Mal ein Geheimnis, etwas Magisches. Ich verstehe bis heute nicht, wie das funktioniert. Und da ist es egal, ob ich schon 50 Stücke gemacht habe, es fühlt sich für mich immer so an. Ich frage oft andere Choreograf*innen, ob es ihnen auch so geht, in der Hoffnung, dass sie ein Mittel dagegen wissen, dass es ein Rezept gibt, mit dem diese Angst verschwindet. Aber das gibt es nicht. Twyla Tharp sagte zu mir vor ein paar Monaten: „The successful pieces are the hardest to follow. The ones that are a flop are easy to follow.” Wenn man einen Erfolg gefeiert hat, ist es besonders schwierig, ein neues Stück zu machen. Da muss man durch. 

Was das Hamburg Ballett einzigartig macht

Sie haben schon mit so einigen Kompanien und professionellen Ballettschulen in der Welt gearbeitet: mit dem Stuttgarter Ballett, mit der John Cranko Schule, ebenso mit der Schule des Hamburg Ballett und Canada’s National Ballet School, mit dem American Ballet Theatre, mit dem Ballett der Semperoper Dresden, mit der Compañía Nacional de Danza de México, mit dem Ballet de Santiago de Chile, mit dem Ballet Nacional del Sodre in Uruguay, mit dem Lettischen Nationalballett, mit dem Ballet Vlaanderen und natürlich mit dem Ballett am Rhein in Düsseldorf und Duisburg, wo Sie vier Jahre lang Direktor und Chefchoreograf waren. Was unterscheidet das Hamburg Ballett von diesen Kompanien, was macht es einzigartig? 

Es ist vor allem die Offenheit, sich auf kreative Prozesse in einer sehr tiefgehenden Art und Weise einzulassen; das Grundvertrauen dem Choreografen oder der Choreografin gegenüber, den Weg mitzugehen und wirklich signifikant in die Materie einzusteigen. Das merkt man, wenn man mit den Tänzerinnen und Tänzern über die Stücke spricht, die sie getanzt haben. Wie sie darüber reden, welche Aspekte davon sie interessieren, was sie darüber schon alles gelesen haben. Das ist sehr besonders. 

Ist das in anderen Kompanien wirklich anders? 

Ja, sie unterscheiden sich schon. Die meisten Kompanien dieser Größe wiederholen Werke, und die Tänzer*innen sind auf andere Art am Kreationsprozess beteiligt. Sie sind nicht immer daran gewöhnt, mit Choreograf*innen zu arbeiten, die sich mit literarischen Vorlagen und Narrativen auseinandersetzen. Und wenn, dann sind es meist keine abendfüllenden Stücke. 

Wenn man ein abendfüllendes Handlungsballett macht, ist der Bogen viel größer, dabei müssen die Tänzerinnen und Tänzer ganz anders intensiv in den Stoff eintauchen. Wenn das nicht regelmäßig passiert, stellt dieser Prozess eine besondere Herausforderung dar. Es kann trotzdem gelingen, weil man gerade dann alles gibt. Dem Hamburg Ballett muss man dazu nicht viel erklären, die Tänzerinnen und Tänzer kennen es nicht anders, sie sind genau diese Art von kreativer Arbeit gewohnt. Für die meisten hier versteht es sich von selbst, dass man den Shakespeare-Text liest, wenn man „Romeo und Julia“ erarbeitet, oder Tennessee Williams‘ „Glasmenagerie“ oder Thomas Manns „Der Tod in Venedig“. Einige können sogar daraus zitieren. Das kenne ich so aus keiner anderen Kompanie. Das ist das Besondere. Viele haben auch jetzt schon „Demian“ gelesen, weil sie wissen, dass das Ballett auf sie zukommt. Ich finde es wunderbar, mich mit den Tänzerinnen und Tänzern darüber austauschen zu können. Das braucht man als Choreograf, um solche Stücke entstehen zu lassen. Diese Kultur ist dem Hamburg Ballett zu eigen. Darauf will ich aufbauen, es weiterdenken und weiterführen. 

Bei der Kompanie gibt es jetzt einige Veränderungen, mehrere Tänzer*innen haben die Kompanie verlassen oder ihre Karriere beendet. Sie bringen sechs neue Tänzer*innen mit. Wie kam es dazu? 

Für mich war es erst einmal wichtig, die Kompanie im Lauf des vergangenen Jahres genauer kennenzulernen. Mir ist wichtig, dass die Kontinuität weiter besteht, dass wir Talente aus der Schule fördern; auch aus dem Bundesjugendballett kommen eine Tänzerin und ein Tänzer neu in die Kompanie. Nachdem ich wusste, wer geht und wer bleibt, habe ich überlegt, welche Tänzer*innen ich neu engagiere. Ein Vortanzen fand ich dafür überflüssig, weil ich ohnehin einige Tänzer*innen aus Düsseldorf mitnehmen wollte. Bei dem/der einen oder anderen wusste ich allerdings, dass das Hamburg Ballett nicht die richtige Kompanie für ihn oder sie wäre. 

Was stand bei der Auswahl im Vordergrund? 

Zum einen natürlich die Qualität, technisch und künstlerisch. Das ist immer vorranging. Zum anderen aber das Besondere, das ganz Eigene, was diese Tänzerin oder diesen Tänzer auszeichnet und sonst niemand in der Kompanie. Ich möchte ein Ensemble haben, das besonders vielfältig ist. Wichtig war auch die Frage, wer die richtige Haltung mitbringt. Das Hamburg Ballett ist ein sehr geschützter, spezieller Raum. Die Tänzer*innen hier verfügen über eine besondere Hingabe an die Kunst und das Miteinander. Da kann ich nur Menschen engagieren, die das ebenfalls von sich aus mitbringen. Mir ist es ein sehr großes Anliegen, dass die Compagnie und das Team nicht in zwei Kategorien zerfallen, in „die Alten“ und „die Neuen“, sondern dass alle von vornherein eine Einheit bilden und diese Kultur weiterhin gemeinsam pflegen. 

Interesse zeigen für die freie Szene

Schauen wir auf das Spannungsfeld zwischen freier Szene und den etablierten Kompanien an den Stadt- und Staatstheatern. Wie sehen Sie hier die Verhältnisse, gerade in Hamburg? 

Mit dem Begriff der „etablierten“ Kompanien tue ich mich schwer. Nicht alles, was an den Stadt- und Staatstheatern stattfindet, ist etabliert. Da wird auch viel experimentiert. Und ein sicherer Hort ist das auch nicht. Da kann sich von heute auf morgen etwas ändern. 

Trotzdem ist es etwas anderes, ob ich in der freien Szene arbeite oder beim Hamburg Ballett. Hier gab es zumindest in der Vergangenheit nicht so viele Berührungspunkte und wenig Austausch, von wenigen Ausnahmen abgesehen. 

Ich weiß nicht, woran das lag. Jetzt gibt es auf jeden Fall einen Austausch. Natürlich habe ich mit Amelie Deuflhard als Intendantin von Kampnagel gesprochen, bevor ich Aszure Barton eingeladen habe, damit sie das nicht aus der Presse erfährt. Aszure hat ihre Stücke in Hamburg bisher nur auf Kampnagel gezeigt. Es ist schön, wenn es jetzt wieder Berührungspunkte zwischen den beiden Institutionen gibt. Es ist für mich wichtig zu wissen, was auf Kampnagel stattfindet, und hoffentlich ist es umgekehrt auch so. Letztens durfte ich bei einer Probe von Antje Pfundtner zuschauen, das fand ich super interessant. Mit ihr tausche ich mich auch aus. Mich interessiert, was da passiert, diese andere Sicht auf die Welt des Tanzes.

Das war in der Vergangenheit leider nicht so … 

Ich bin immer wieder erstaunt, welche Ressentiments teilweise bestehen zwischen freier Szene und den Stadt- und Staatstheatern. Da könnte man eine andere Haltung entwickeln. Ich finde, dass es eine Bereicherung ist, dass wir uns unterscheiden. Diese Verschiedenheit ist wichtig, die sollten wir feiern. 

Zu feiern gibt es jetzt auf jeden Fall, dass die Tanztriennale 2026 von der Kulturstiftung des Bundes nach Hamburg vergeben wurde. Ist das schon die erste Frucht des Austauschs? 

Das kann man so sehen. Für mich ist das eine tolle Möglichkeit, gleich zu Beginn meiner Intendanz hier mit den zahlreichen anderen Tanzinstitutionen in Dialog zu treten. Bereits im Zuge der Antragstellung haben mich die Energie und das Engagement in der Zusammenarbeit besonders mit den Projektpartnern der Stadt Hamburg, von Kampnagel und K3 (Zentrum für Choreografie | Tanzplan Hamburg) absolut begeistert. Durch die Triennale werden sich weitere Synergien ergeben können, und ich freue mich auf den regen Austausch und die Zusammenarbeit. 

John Neumeiers vorerst letztes Stück für das Hamburg Ballett war „Epilog“ (siehe tanznetz vom 2. Juli 2024). Wie war es für Sie, dieses Stück zu sehen, Sie waren ja da? 

Um ehrlich zu sein: Es hat mir das Herz gebrochen. Es war ganz eindeutig ein Stück mit leisen Tönen, John selbst hat das so benannt, und das hat man gespürt. Für mich war es sehr, sehr aufwühlend, sehr emotional. Es hat mich tief bewegt, weil es eine Traurigkeit ausströmte, die ich sehr stark empfunden habe. Vielleicht, weil ich den Kontext kenne. Ich kann darüber noch nicht objektiv sprechen. Mir fehlen die Worte, um das konkreter auszudrücken. Aber ich freue mich, das Stück in der nächsten Spielzeit öfter zu sehen, um da auch für mich noch mehr Klarheit zu gewinnen. Was ich ganz wunderbar fand, war der Schluss. Dass der Tänzer – Caspar Sasse – den Zylinder mitnimmt, wenn er die Bühne verlässt und das Stück endet. Einmal Tänzer, immer Tänzer. Einmal Choreograf, immer Choreograf. Das Theater lebt in ihm weiter. Das fand ich eine großartige Aussage – für ihn als Künstler und Choreograf, für alle anderen Künstler, für die Kunst generell. Für alles. Und letztlich auch für mich. 

 

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