„Frida“ von Ricardo Fernando. Tanz: Ensemble

Frida Kahlo, der Tod und die Bedeutung von Farben

„Frida“ von Ricardo Fernando am Staatstheater Augsburg

Ballettchef Fernando startet mit der Uraufführung in die neue Spielzeit und wuchert mit dem Pfund verborgener Talente seines Augsburger Balletts. Eine ästhetische Punktlandung, die voller Überraschungen steckt.

Augsburg, 01/10/2024

Die Bühne ist dunkel. Im Hintergrund erkennt man eine Schräge. Licht fällt auf eine darauf stehende Tänzerin im typisch-folkloristischen Frida-Kahlo-Look: langer bunter Rock und ein Reif aus üppigen Blumen im Haar. „Selbstporträt“ hat Ricardo Fernando die erste Szene seines neuen Balletts „Frida“ überschrieben – nach „Charlie“ in der vergangenen Saison das zweite einer außergewöhnlichen Künstlerpersönlichkeit gewidmete Tanzstück. Doch bevor Martina Piacentino in der Rolle der Titelinterpretin so richtig zu moven beginnt, flutet eine eindringlich singende Frauenstimme aus dem Off den Saal.

Fernandos „Portschlüssel“, um in den komplexen Befindlichkeitskosmos der Künstlerin einzutauchen, die jung an Kinderlähmung erkrankte und Jahre darauf einen folgenschweren, ihren Körper vollkommen zerschmetternden Busunfall erlitt, ist traditionelle lateinamerikanische Musik u.a. von Lila Downs oder Los Folkloristas. In den Liedern mit ihren oft mitreißenden Rhythmen werden Leid, Schönheit und Tod besungen. Dass die Tänzer*innen das stark mit dem Tag der Toten verbundene Volkslied „La Llorona“ sogar mitsingen, fällt anfangs zwar auf, aber zu diesem Zeitpunkt dramaturgisch noch nicht ins Gewicht. Das hat sich der Choreograf zur Reprise als Coup fürs Ende aufgespart.

Da hockt Nikolaos Doede plötzlich oben auf der Schräge und spielt famos live Gitarre. Dabei hatte er gerade noch die Personifizierung des Motivs „Blume“ und in einem Beziehungsquartett über zwei Bänke hinweg Fridas Geliebten Trotzki getanzt. Seine Kolleg*innen betreten die Tanzfläche unter ihm mit weißen Schüsseln in den Händen. Langsam holen sie Fingerfarbe(n) daraus hervor und bemalen die nun bis auf die Unterwäsche und den Haarschmuck entkleidete Frida-Tänzerin. Das gesamte Tanzensemble singt lautstark und herrlich dazu unisono – Fátima López García unglaublich schön auch mal solo. Zum Schluss haben alle ihre Anzüge abgelegt. Man rückt enger zusammen und skandiert die letzte Strophe von „La Llorona“ forsch auf die Zuschauer zugehend. Das packt.

Den Blick geradeaus Richtung Publikum harrt Martina Piacentino schon im ersten Bild länger reglos in der Mitte des hölzernen Bergrückens aus. Währenddessen arbeiten sich nacheinander weitere Tänzer*innen in Viergruppen von hinten neben ihr an die obere Kante der Bühnenschräge vor. Alle tragen bodenlange, farbenfroh gemusterte Stoffe – sie alle sind (ein Teil von) Frida. Das ist zu Beginn der Uraufführung des Augsburger Ballettchefs so und wiederholt sich in den folgenden 90 Minuten immer wieder – bis zum klanglich überwältigend gelösten 18. finalen Tableau „Los colores“. Ricardo Fernando bezieht sich darin vermutlich auf den im Programmheft abgedruckten Tagebucheintrag der Künstlerin aus dem Jahr 1944, in dem diese den ihr wichtigsten Farben bestimmte Bedeutungen zuordnet.

Mitunter durch Kunstgriffe wie das Vervielfachen der Hauptfigur vermag Ballett mehr als bloß biografische Fakten nachzuerzählen. Bild (Bühne & Kostüme: Pascal Seibicke) und Musik (Sounddesign: Ensemblemitglied David Nigro, der in dieser Produktion u.a. einen Gefolgsmann des Todes tanzt) verschmelzen auf eine Art, die semiabstrakt eine kraftvolle emotionale Wirkung entfaltet. Der eigenwillig-faszinierenden Künstlerin Kahlo und ihrer bis heute vereinnahmenden Kunst sowohl tänzerisch als auch durch eigene kreative Freiheiten nahe zu kommen, gelingt auf diese Weise sehr gut. In ungewöhnlichen, teils schillernden Auf- und Abtritten spiegeln sich zudem Kahlos gewaltige Ausdrucksfähigkeit und persönliche Exzentrik wider.

Da wird zwischendurch kollektiv einfach mal der Bühnenraum über die Rampe verlassen und Zuschauer*innen werden spontan zum Mittanzen aufgefordert. Viva la fiesta! Natürlich achtet dann niemand mehr auf den schwarzen Raum und dessen Verwandlung dahinter. Für den Rückbau der Szenerie tanzen fünf Männer selbstbewusst-verführerisch mit Fächern. Ihr Weg führt sie nah am Publikum vorbei, von der hintersten Sitzreihe bis nach vorne. Mit Frida Kahlo hat die schmissige, grandios-parodiefrei dargebotene Nummer „Los muxhes“ insofern zu tun, als die rebellische Künstlerin sich in ihrer Jugend auf Familien-Fotos unkonventionell androgyn im Herrenanzug mit burschikos zurückgekämmter Frisur ablichten ließ. Fernando zieht hier wohl den Vergleich zu den im Süden Mexikos gesellschaftlich akzeptierten Männern, die sich als Frauen kleiden, fühlen und leben. Derartige Brücken und Umwege passen bestens in ein wie Fridas eigene Bilderwelten collagiertes Tanzstück.

Den eigenen Schmerz und seine Leidenschaft für das Leben hat selten jemand dermaßen eindrücklich für die Nachwelt visuell festgehalten wie Frida Kahlo – mit der Malerin selbst als Ikone. Das eigenwillig-überbordende ihrer Persönlichkeit wurde zum Symbol für explosive Vitalität. Wo immer es Werke der berühmten lateinamerikanischen Künstlerin zu sehen gibt, sind sie ein Publikumsmagnet. Ihre Lebensgeschichte wurde verfilmt und schon verschiedentlich choreografisch verarbeitet – szenisch vielleicht am radikalsten durch Johann Kresnik.

Zuletzt gastierte im vergangenen Sommer – 70 Jahre nach Fridas Tod – Enrique Gasa Valgas’ neugegründete Limonada Dance Company im Deutschen Theater München mit einer Neuinszenierung seiner am Tiroler Landestheater als Kammerspiel-Produktion uraufgeführten biografischen Tanzrevue „Frida Kahlo“. Inhaltlich ins Zentrum seiner Auseinandersetzung mit dem bewegenden Schicksal der willensstarken Mexikanerin hatte der aus Barcelona stammende Choreograf deren innere Zerrissenheit infolge körperlicher Schmerzen und der Heirat mit dem notorisch fremdgehenden, seinerzeit berühmteren Maler-Kollegen Diego Rivera gestellt.

Ricardo Fernando hingegen – selbst gebürtiger Brasilianer – führt thematisch clever den Tod als ständigen Begleiter Fridas ein. „Ich sehe ihn als ihren Partner, im Guten wie im Schlechten“, schreibt er im Programmheft. „Die beiden treffen auf der Bühne immer wieder aufeinander und handeln die Bedingungen des Lebens miteinander aus.“ Afonso Pereira als La muerte sieht ein bisschen wie Friedrich Wilhelm Murnaus sagenhafter Leinwand-Nosferatu aus. Im abgedimmten Licht leuchten dank präparierter Brille im Gesicht der ansonsten schwarzen Gestalt statt Augen hohle Ringe. Mit spindeldürr verlängerten Fingern umschwirrt er die Hauptdarstellerin und ihr junges Alter Ego (Julie Raiss): eine solistische Partie, die der Ballettchef alternierend insgesamt vier Ballettschülerinnen aus Augsburg anvertraut hat.

Fröhlichkeit schlägt in Angst, Grauen in Hoffnung um – akustisch stets mitgetragen von David Nigros musikalischem Stimmungsbarometer, das intime Gefühle oder Innerlichkeit heraufbeschwört. Mit eingeschnürten Waden kämpft sich die körperlich versehrte Frida wieder ins Leben zurück. Paare und eine Gruppe mit auf die Brust appliziertem Herzorgan zelebrieren ein Fest, und vier Fehlgeburt-Kinder tanzen in tigerartig gestreiften Masken um Frida in ihrem Bett. Auch deren schlimmen Unfall bekommt man zu hören und zu sehen, wenn sich die Schwester (Chiara Zincone) in einer blauen Kammer der Kranken annimmt.

Was Fernando dann macht, ist – aus jeweils andersfarbigen Kabinetten – rechts und links erst einen Vogel (Kako Kijima), dann einen Hirsch (mit großem Geweih: Thomas Krähenbühl), die Blume (Nikolaos Doede) und zuletzt Lucie Horná als Schmetterling auftreten zu lassen. Die Soli der häufig prominent in Kahlos Werken wiederkehrenden Motive unterscheiden sich stilistisch und sind originärer Bestandteil dieses Balletts. Sie fügen sich mit den choreografischen Sequenzen, die von bekannten Schicksalsschlägen und markanten biografischen Wendepunkten in Fridas Leben erzählen, schlüssig zu einem beeindruckenden Ganzen.

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