Ein überfälliges Thema
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Das Ballett Zürich begeistert mit den Uraufführungen „Sonett“, „Deer Vision“ und „Kairos“
Sie sind zwischen 42 und 47, also eher jung als alt, und alle drei international erfolgreiche Choreografen: Erstens Christian Spuck, Direktor des Zürcher Balletts, zweitens Marco Goecke, Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett und beim Nederlands Dans Theater, drittens Wayne McGregor, Gründer und Leiter der Random-Dance-Group, Hauschoreograf beim Royal Ballet und als Neurowissenschaftler so prominent, dass sogar Universitäten um ihn buhlen. Alle drei Choreografen beherrschen sowohl den klassisch-akademischen wie den zeitgenössischen Tanz.
Die drei Herren wurden erstmals zusammengespannt. Unter dem Sammeltitel „Notations“ hat jeder von ihnen ein rund 30-minütiges Stück mit dem Ballett Zürich erarbeitet. Am 24. April fand die Uraufführung am Zürcher Operhaus statt. Alle drei Werke, live begleitet von der Philharmonia Zürich unter Michael Zabling, ernteten begeisterten Applaus.
Eröffnet wird das neue Programm mit Wayne McGregors „Kairos“, einem Stück für je fünf Tänzerinnen und Tänzer. Dazu erklingen mehrere Sätze von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“; allerdings hat der Komponist Max Richter das Violinkonzert als „Vivaldi Recomposed“ ins 21.Jahrhundert gehievt. Zu dieser Musik lässt McGregor neoklassisch tanzen, pointiert und präzis, gleichzeitig aber auch überraschend verquer und viel Freiraum lassend für individuelle Impulse. Raffiniert das Bühnenbild von Idris Kahn: Ein Gazevorhang mit beschriebenen Notenlinien. Davor und dahinter wird getanzt, die Übergänge bleiben rätselhaft, und manchmal verschwindet auch jemand in den Musiknoten.
Christian Spuck versetzt uns in „Sonett“ in die Welt Shakespeares. Er geht der Frage nach, was hinter den 154 mysteriösen Sonetten steckt, die einerseits an einen schönen Jüngling, anderseits an eine „Dark Lady“ gerichtet sind. Zu Glasharmonika-Klängen von Mozart und dem ersten Satz aus der Sinfonie Nr.8 von Philip Glass bewegen sich die Tänzerinnen wie bei McGregor auf Spitze. Sie zirkeln mit ihren Partnern auf und neben sieben Podesten herum, während die „Dark Lady“ (Eva Dewaele) sich allein im Raum herumtreibt, mit teils runden, teils eckigen Bewegungen. Das gelingt ihr allerdings nur mit dem Oberkörper, weil ein pompöses Kleid sie an den Boden zieht. Der erwähnte junge Mann kommt nur als Bild auf der Hinterwand vor (Bühne Emma Ryott). Sehr witzig wirkt die Präsenz der zwergwüchsigen französischen Schauspielerin Mireille Mossé, die seinerzeit auch in Spucks Ballett „Das Fräulein von S.“ (2012 in Stuttgart) den Ton angab. Sie rennt im Mini-Dichterkostüm herum, mit Schnauz und Bart versehen, balanciert scharf entlang der Podest-Ränder, zitiert dabei auf Deutsch und Französisch aus den Shakespeare-Sonetten. Schade nur, dass man trotz Mikrophon nicht alles versteht. Unklar bleibt auch, wo Spuck die Zahl 14 (so viele Zeilen hat ein Sonett) und das zugehörige Reimschema in seine Choreografie eingebaut hat, wie er versprochen hatte. Am Schluss legt sich Mossé mit der „Dark Lady“ an, worauf diese ihr Kleid hebt und Klein-Shakespeare darunter kaltblütig begräbt.
Weit weg vom klassischen Tanz entfaltet sich Marco Goeckes Stück „Deer Vision“. Auf der von Nebel verhangenen Bühne (Michaela Springer) kreisen aufgeregte, wild gestikulierende, zitternde Gestalten herum. Es sind wohl Rehe und anderes Getier, Jäger und Gejagte, dem Zauber und den Schrecken des Waldes ausgeliefert. Erstaunlicherweise erklingt dazu Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ (Fassung für Streichorchester). Listig und kokett, wie Goecke nun einmal ist, schaltet er den traditionellen Inhalt einfach aus: In Richard Dehmels gleichnamigem Gedicht wandelt ein Liebespaar im Mondenschein durch einen Park, sie schwanger von einem andern, er sie trotzdem nicht verlassend. Nichts von alledem, dafür das Bekenntnis des Choreografen im Programmheft: Für ihn stehe der Tanz im Vordergrund, „der musikalisch-literarische Kontext ist nebensächlich“. Viele Choreografen seien von Musik geradezu besessen: „Das ist mir fremd.“
Das Ballett Zürich, verstärkt von Mitgliedern der Junior-Group, tanzt wunderbar. Einige wirken gleich in allen drei Stücken mit (Katja Wünsche, Juliette Brunner, Jan Casier), andere in zweien (ein großartiger William Moore, Galina Mihaylova, Viktorina Kapitonova). Oder sie erbringen „nur“ Einzelleistungen, dafür besonders perfekt (Manuel Renard, Filipe Portugal, Cristian Alex Assis).
Mit dem Programm „Notations“ des Zürcher Balletts am Opernhaus wurde auch das 14. Internationale Tanzfestival „Steps“ eröffnet: Eine Biennale, organisiert und finanziert vom Migros-Kulturprozent (d.h. das Migros-Unternehmen leitet rund 1 Prozent des Umsatzes in diese Einrichtung). Vom 24. April bis 17. Mai touren zwölf internationale Kompanien durch 35 Schweizer Städte, präsentieren 86 Vorstellungen in 39 Theatern. Auch „Notations“ geht auf Tournee. Erstmals in der Geschichte von „Steps“ beteiligt sich das Ballett Zürich am Festival. Und das nicht nur mit einer, sondern gleich mit drei Welturaufführungen.
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