Ein bunter Lebens- und Todestanz
Marco Santi choreografiert in St. Gallen „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“
Brit Rodemund liegt rücklings, mit dem Kopf nach unten, auf einer kleinen Schräge am Boden der Halle 2 des Wangener Theaterhauses. Langsam rutscht sie abwärts und erzählt, dass sie früher als „Schnurhalter“ so geeignet war, wie kein anderes Kind. Wieder und wieder. Und weil die restlichen Mitglieder des Marco Santi Danse Ensembles noch damit beschäftigt sind, von den Sitzreihen die weißen Schonbezüge zu entfernen und sie sorgfältig zusammenzulegen, bleiben die Zuschauer an der Rampe stehen und blicken mit schiefgelegten Köpfen, um etwas von ihrem Gesicht zu erkennen, auf Brit Rodemund herab. So verstreicht die Zeit.
Um die Zeit geht es in „Bach“, der jüngsten Produktion des italienischen Choreografen Marco Santi, die er nach Motiven seines vor vier Jahren im Stuttgarter Kammertheater uraufgeführten Tanzstücks „The Third Canon of Thoughts“ geschaffen hat. Derweil sind die Stühle frei, die Tänzer mischen sich unters Publikum, das allmählich die Bühne in Richtung Tribüne verlässt. An der linken Seite der Spielfläche rasen auf einer Projektionsfläche die Zahlen einer Digitaluhr voran, rechts sitzt Ruth Oberer, eine ältere Dame, im riesigen Barockkleid, ein Buch auf dem Schoß, vor sich ein Tonbandgerät. Ist sie Johann Sebastian Bachs Witwe, seine Mutter?
Die Tänzer haben sich auf den Boden gesetzt, elektronische Klänge von Roderick Vanderstraeten blubbern. Pilar Murube beginnt mit ausgebreiteten Armen zu kreiseln, stürzt nieder, steht auf, stürzt erneut nieder, rollt über den Boden, erhebt sich wieder, Nina Kurzeja stakst mit umknickenden Füßen in Pumps auf der Rampe umher, Megan Firsowicz und Marco Barbera unterhalten sich halblaut, vermutlich über Tanzen, denn bald beginnen sie, ebenfalls auf dem Boden, eine Sequenz zu proben. Dazu kreischen aus den Lautsprechern Fetzen von Bachs Partiten für Violine solo. Fast autistische tänzerische Alleingänge wechseln sich mit ausgedehnten Ruhephasen und zärtlichen Duos ab, meistens aber würdigen sich die Tänzer keines Blicks – sie scheinen in der Tat jeder in einer anderen Zeit zu leben. Erst am Ende tritt das komplette Ensemble gemeinsam in einer langen, musiklosen und verblüffend homogenen Aktion auf.
Bei Marco Santi muss man eiserne Knie haben. Sein oft kraftraubender Tanz strebt nicht nach Leichtigkeit. Er bohrt sich immer wieder geradezu in den Boden, als sei der das eigentliche Element der Menschen, die nicht fallen, sondern sich fortwährend niederwerfen, wie um jene Energie zu tanken, die ihnen das aufrechte Drehen, überwiegend mit vorgebeugtem Oberkörper und ausgebreiteten Armen, erst ermöglicht. Von seiner ersten Fassung unterscheidet sich das Stück nicht nur durch das verknappte Bühnenbild (Manuela Geisler), auch der Knabe (Kind Bach?) mit dem Gameboy ist verschwunden, sondern vor allem durch sein konsequenteres, für den Zuschauer erheblich interessanteres, Festhalten am Thema Zeit. Das liegt womöglich an der Mitarbeit der Dramaturgin Andrea Heller. War Santi früher wohl auch darauf aus, seinem Publikum das zähe Verstreichen der Zeit beinahe körperlich erlebbar zu machen, so verhält er sich nun wie dessen Anwalt. „Bach“, das noch bis zum 8. April gezeigt wird, ist jedenfalls ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie attraktiv modernes Tanztheater sein kann.
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